Suchtfaktor „FESTIVAL della Valle d´Itria“ / Martina Franca 2019

Matrimonio segreto/Foto @ Holger Wemhoff

Da sind wir also fast am Ende der Festvalsaison 2019. Der ein oder andere wird aufatmen. Denn wenn man seinen Blick auf die ach so prominenten Festivals richtet, muss man manchmal den Eindruck haben, dass der musikalische Aspekt immer mehr aus dem Fokus gerät und die sogenannten „Skandale“ weit über die Yellow Press hinaus die Journaille beschäftigt. Stichwort Salzburg und Bayreuth: Drag Queens im neuen „Tannhäuser“, Peter Sellars und seine daneben geratene Thunbergsche Sicht auf Mozarts „Titus“, der russische Maestro, der sowohl hüben wie drüben musikalisch Nebulöses erzeugt (wen wunderts?) und die Über-Diva namens Anna Netrebko, die beide glamourösen Festivals mit Absagen „verwöhnt“. Nun denn. Nichts wirklich Neues oder gar Überraschendes. (Bericht vom Festival della Valle d’Itria von Holger Wemhoff)

 

Apropos verwöhnt: Ich fühlte mich in diesem Jahr tatsächlich verwöhnt. Fast möchte ich sagen aufgehoben. In allen Belangen.

Bei einem italienischen Festival, dass eben nicht den Namen „Verona“ (ach ja, da hat Anna doch mit Gatte vor ihrer Erschöpfungspause gesungen, oder?), oder „Torre del Lago“.

Nein, dieses Festival trägt den Namen „Festival della Valle d´ Itria“ und fand in diesem Jahr bereits zum 45. (!) Mal statt. Jedes Jahr von Mitte Juli bis Anfang August kommen tausende Opern-LIEBHABER in das wunderschöne historische Städtchen Martina Franca. Und mausert sich Jahr für Jahr mehr zu einem Tipp für Opernfans weit über das „Geheime“ hinaus.

Pier Luigi Pizzi u. Holger Wemhoff

Natürlich, auch Martina Franca hat seine Stars. Viele wissen es nur nicht. Seit einigen Jahren ist zum Beispiel der italienische Stardirigent Fabio Luisi musikalischer Chef und auch in diesem Jahr hat man zum wiederholten Male mit der italienischen Regie-Legende Pier Luigi Pizzi einen Mann an Bord, der mit seinen 89 Jahren gleich ZWEI Hauptproduktionen des diesjährigen Festivals zu verantworten hatte.

Auch in Martina Franca gab es übrigens einen „Skandal“. Einen, der sogar für Filmstoff sorgen könnte. Würde er nicht für eine gewisse Tragik sorgen. Ausgerechnet Luisi musste in diesem Jahr krankheitsbedingt seine Teilnahme am Festival absagen. Zum Glück für das Publikum erklärte sich allerdings der junge italienische Maestro Sesto Quatrini dazu bereit, neben dem sowieso geplanten Dirigat von Offenbachs köstlicher Farce „Coscoletto“ auch die HAUPTPRODUKTION des diesjährigen Festivals zu übernehmen, Nicola Manfroces Opernrarität „Ecuba“. Das genau das diesem massiv hoffnungsvollen Dirigenten perfekt gelang, trotzt mit einiges an Bewunderung ab.

Sesto Quatrini u. Holger Wemhoff

Wie mir Quatrini im Gespräch erzählte, hatte er vor weiteren zeitraubenden Neuproduktionen im Herbst und Winter eigentlich eine kleine Urlaubsauszeit mit seiner zukünftigen Ehefrau nehmen wollen, stattdessen entschied er sich mit seinem Einspringen für die Hauptpremiere Urlaub Urlaub sein zu lassen und stattdessen das Festival zu „retten“. – Dummerweise musste ER sich aber retten LASSEN, denn Quatrini ist schon seit Monaten das Opfer einer wildgewordenen japanischen Stalkerin, die den jungen Maestro bis nach Apulien verfolgte ,Polizisten mit Scheren bedrohte, nicht definierbare Flüssigkeiten in dubiosen Fläschchen mit sich führte, lautstark vor dem Haupt-Theater (dem Palazzo Ducale) randalierte und sich sogar unbemerkt in seine Garderobe schleichen konnte. Immerhin gelang es Quatrini, einen Gerichtsbeschluss zu erwirken, der es ihr verboten hatte, ihm näher zu kommen als bis auf 500 Meter. Allerdings fühlt man sich als Einspringer mit einer Oper, die man nie zuvor dirigiert hat und dem ständigen künstlerischen Druck, der auf einem lastet, unter permanentem Polizeischutz natürlich alles andere als wohl!

Umso tiefer ziehe ich meinen Hut vor Sestos künstlerischer Leistung, die weit über bloße „Routine“ hinausging. Im Gegenteil. Manfronces „Ecuba“ mag zwar kein Opern-Meilensten sein, aber dieser tragische Dreiakter um die trojanische rachsüchtige und mordende Königin Hekuba hat, gerade in der Finalszene, derart moderne und vorausschauende Momente, dass Verdi seine ersten musikalischen Grüße sendet. Man mag gar nicht daran denken, was aus diesem italienischen blutjungen Opernkomponisten hätte noch alles werden können, wenn er nicht schon mit 22(!) Jahren das Zeitliche gesegnet hätte. Neben Quatrini als Dirigenten und dem schon oben erwähnten Pizzi als Regisseur (der die im wahrsten Sinne des Wortes griechische Tragödie hier wirklich ernst genommen und fassbar gemacht hat) war es vor allem die gerade mal 23jährige Sopranistin Lidia Friedman, die (ebenfalls als EINSPRINGERIN für die erkrankte Carmela Remigio) einen Sensationserfolg für sich verbuchen konnte. Auf diese Stimme wird man in den kommenden Jahren achten MÜSSEN!

Auf gleichbleibend hohem Niveau auch die anderen von mir besuchten Opernproduktionen.

Vittorio Prato u. Holger Wemhoff

Zum einen Domenico Cimarosas herrliche Opern-Komödie „Il matrimonio segreto“. Ein Ensemblestück par excellence, im fast zu groß anmutenden Palazzo Ducale ausschließlich mit jungen, erfolgreich durchstartenden Sängern besetzt, angeführt durch den Bariton Vittorio Prato, der hier vor allem spielerisch sein komödiantisches Talent bestens zur Geltung bringen konnte. Und was für eine Meisterleistung von Regisseur Pier Luigi Pizzi, der nach der unheilschwangeren statischen „Ecuba“-Produktionen herrlich luftiges, leichtes, im wahrsten Sinne des Wortes, Sommerliches auf die Bühne brachte. Von einem von einigen Herrschaften befürchteten „Alt – Herren – Charme“ eines 89jährigen: Keine Spur!

Unbedingt hervorheben möchte ich noch die BAROCK-Produktion der diesjährigen Festivalausgabe, Nicola Porporas Meisterstück „ORFEO“, seinerzeit uraufgeführt, eingerichtet und in Szene gesetzt, für die damaligen Opern-Superstars: die beiden Kastraten Farinelli und Senesino. Ein schweres Erbe also, was heutige Countertenöre da antreten müssen, WENN sie sich denn dafür entscheiden , diese Oper zu singen. Und wie die beiden das beim Festival Valle d´ Itria taten! In der von Massimo Gasparon auf den barocken Punkt inszenierten und kostümierten Handlung brillierten der Südamerikaner Rodrigo Soso dal Pozzo als Aristeus und als sein Rivale Orfeo einer der heutigen Counter-Topstars: der junge Italiener Raffaele Pe, der seinem Ruf als „Meister des Legato“ nicht nur alle Ehre machte, sondern geradezu über sich hinauswuchs. Was für ein Abend. Was für ein Glück. Was für ein Opernhimmel! Dazu das geniale Dirigat des Barockspezialisten George Petrou mit seinem weltbekannten Ensemble Armonia Atenea!

Sie denken und lesen – ich schwärme?

Raffaele Pe u. Holger Wemhoff

Das tue ich. Leidenschaftlich! Und ich weiß nicht, wo ich beginnen und wo ich aufhören soll. Bei der Nahbarkeit der Künstler, auf die man als Festivalbesucher an jeder Ecke trifft? Bei dem herrlichen, weiß leuchtenden Städtchen Martina Franca an sich? Beim herrlichsten, nie zu heißen Sommerwetter? Bei den kulinarischen Genüssen, die diese Region bietet und einen wirklich NIE enttäuscht? Bei den Lehren, die ich aus meinem langen Gespräch mit Regielegende Pier Luigi Pizzi für mein Leben ziehen darf? Der ansteckend guten Laune, die Orfeo-Titelheld Raffaele Pe beim gemeinsamen Kaffee verströmte? Bei der Musik, die einen von morgens bis Abends ÜBERALL umgibt? Oder bei der genial liebevollen Betreuung durch Edoardo Pelligra und sein Team von „Skill & Music“?

Eines weiß ich. Ich bin angefixt!

Und will wieder nach Martina Franca. Am besten jeden Sommer. Und kann nur jedem Opernfan empfehlen: Dorthin! Lassen Sie die Skandälchen der großen Sommerfestivals mit den ganzen Wasserglas-Stürmchen hinter sich und besuchen Sie das Festival della Valle d´ Itria. Und genießen Sie einfach das, was wir alle so lieben: Großartige Musik und großartige Musiker!

Wenn es einen wirklichen Skandal dort gibt, ist es der, den mir Intendant Alberto Triola (in seinem zehnten Amtsjahr) im Gespräch verriet: Dieses Festival ist eines der am geringsten subventionierten in ganz Italien….

DAS (!) ist in der Tat ein Skandal!

 

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