Sternstunde der historischen Aufführungspraxis: „Der Freischütz“ semi-konzertant in der Kölner Philharmonie

René Jacobs/©Philippe Matsas

So muss ein „Freischütz“ sein! René Jacobs hat mit seinem Freiburger Barockorchester, der Zürcher Singakademie und einem jungen Sänger*innen-Ensemble eine optimale CD-Version von Carl Maria von Webers Singspiel eingespielt und präsentierte sein Projekt am 2. Mai 2022 semi-konzertant in der Kölner Philharmonie. Jacobs ließ erkennen, dass der 1821 uraufgeführte „Freischütz“ Beethoven und Mozart näher ist als Wagner. Mit der Rekonstruktion des vom Textdichter Johann Friedrich Kind verfassten Original-Librettos entsteht der Eindruck eines für eine ganze Epoche stilbildenden Werks, in dem Weber mit einfachen Trinkliedern, Volkstänzen und liedhaften Chören als Mittel der Personencharakterisierung einerseits und furchteinflößenden Tremoli, verminderten Septakkorden, dröhnenden Posaunen und schaurigen Lamento-Bässen zur Dramatisierung der gespenstischen Wolfsschluchtszene andererseits, überwältigende Effekte erzielte. Der perfekte dramatische Spannungsbogen der Handlung bis hin zum durchkomponierten Finale („Schaut nur, schaut, er traf die eigne Braut“) sorgte für atemlose Stille im Publikum und stehende Ovationen beim lang andauernden Schlussapplaus. (Rezension der Vorstellung v. 2.5.2022)

 

 

„Der Freischütz“ ist ein deutsches Singspiel mit gesprochenen Dialogen und verlangt von den Sänger*innen, dass sie ihre Textsicherheit nicht nur bei den anspruchsvollen Gesangsleistungen, bei denen Variationen durchaus zugelassen waren, sondern auch in den komponierten gereimten Rezitativen und in den gesprochenen Dialogen, die im Rahmen der Aufführungspraxis zu Carl Maria von Webers Zeit durchaus abweichend vom gedruckten Text variiert werden durften, beweisen.

René Jacobs hat eine professionelle Einspielung des „Freischütz“ als Hörspiel-Oper beabsichtigt und die Dialoge zu einem Hörspiel-Szenario umgearbeitet, bei dem die Sprache behutsam modernisiert wurde, Längen gekürzt und Toneffekte im Stil eines Hörspiels zugefügt wurden. Größtes Problem stellte die Figur des dämonischen Samiel dar, der in der Oper nur in zwei Szenen spricht, aber als Person und in szenischen Effekten ständig auf der Bühne präsent ist. Der Textanteil des Samiel wurde deutlich erhöht, was ihm auch in der CD-Version die entsprechende Präsenz verleiht. Der aus verschiedenen TV-Rollen bekannte Schauspieler Max Urlacher gab diesem Teufel die entsprechende physische Präsenz mit tätowierten Armen und einer diabolischen Ausstrahlung. Er phantasierte vor dem Finale das schlimme Ende des Max: „wenn er sich aus Verzweiflung selbst umbringt oder in der Irrenanstalt landet,“ – eine aktuelle Anspielung über die von der Presse verrissene Inszenierung des „Freischütz“ in Kassel. Samiel hat in der konzertanten Fassung die Funktion, das mit Worten zu beschreiben, was konzertant nicht dargestellt werden kann. Dazu hat Jacobs auch Rückgriff auf die zu Grunde liegende Volkssage von Johann August Apel aus seinem „Gespensterbuch“, die Weber und Kind inspiriert haben, genommen.

Freiburger Barockorchester/Foto@ Annelies van der Vegt

Eine akustische Sensation war schon die Ouvertüre, in der die Naturhörner, gespielt von Bart Aerbeyt, Milo Maestri, Ricardo Rodriguez und Martin Reiter die romantische Waldatmosphäre schufen. Sie standen exponiert an den Seiten und gliederten sich später in das Orchester, das auf Originalklanginstrumenten spielte, ein.

Dann die erste Überraschung: nicht der Klang eines Schusses mit der lärmenden „Viktoria“-Szene, sondern ein nie gehörter Auftakt des Eremiten, der seinen Alptraum, in dem er das Unheil kommen sieht, singt, dazu ein Terzett mit Agathe und Ännchen, in dem man erfährt, woher die weißen Rosen kommen, aus denen später Agathes Brautkranz gemacht wird, der sie vor dem Bösen schützt. Der noble Bassbariton Torben Jürgens als Vertreter des Guten sah das Unheil vorher. Mit dieser Einleitung versteht man die Handlung viel besser. Die Exposition wird allerdings dadurch verlängert, der Beginn mit „Viktoria“ ist einfach theaterwirksamer.

René Jacobs hat drei Szenen nachkomponiert, die Carl Maria von Weber aus theaterdramaturgischen Erwägungen gar nicht erst vertonte: den Auftritt des Eremiten, ein folgendes Terzett mit Agathe und Ännchen und die Romanze „Herr Ottokar jagte durch Heid und Wald“, in der Kuno den Ursprung des Probeschusses beschreibt. Der mozarterfahrene Bass Matthias Winckhler als Kuno gibt dieser väterlichen Figur Kontur.

Nach dem „Viktoria“-Chor kommt durch den Seitengang am Publikum vorbei der Bass Yannick Debus als Kilian mit großer Bühnenpräsenz und verspottet den armen Max. Mit unfassbarer Präzision fällt der Chor mit „He, he, he!“ ein.  Das Drama nimmt seinen Lauf. Den Max besetzte René Jacobs mit Magnus Staveland, einem sehr sensiblen norwegischen lyrischen Tenor. Er macht aus der Rolle die Charakterstudie eines von der Prüfungssituation überforderten jungen Mannes, der sich vom skrupellosen ehemaligen Landsknecht Kaspar unter Einfluss von Alkohol zum Einsatz unlauterer Mittel verleiten lässt. Die Praxis, den Max von schweren Helden wie René Kollo singen zu lassen, wird eindeutig über Bord geworfen. Als Kaspar glänzte Dimitry Iwaschenko mit Charakterbass. Er verlieh den Mächten des Bösen eine große stimmliche Präsenz.

Mit silbrig-hellem Koloratursopran und enormem schauspielerischem Talent gestaltete Katharina Ruckgaber das kokette Ännchen, ideale Ergänzung zu der eher lyrischen als dramatischen Agathe von Polina Pastirchak. Pastirchaks Stimme ist in allen Lagen homogen und mädchenhaft schön. Wie sie die weit gespannten Kantilenen der großen Arie mit sehr schönem Legato gestaltete, kam großen Vorbildern schon sehr nahe.

Die Besetzung der Protagonisten Agathe, Max und Kaspar verdeutlicht ganz besonders die Abkehr von „schweren“ Stimmen, wie sie sonst mit großem klassischem Orchester im „Freischütz“ eingesetzt werden.

Der Freischütz/Schlussapplaus/Foto @ U. Hartlapp-Lindemeyer

Was René Jacobs, anerkannter Experte für die historische Aufführungspraxis von Barockmusik, aus der Partitur des „Freischütz“ herausholte ist einfach nur umwerfend. Die Zürcher Singakademie in der Einstudierung von Sebastian Breuning agierte mit äußerster musikalischer Präzision, die Feinheiten der kunstvollen Instrumentierung Webers wurden vom Freiburger Barockorchester akribisch ausgekostet und webten einen satten Klangteppich von romantischem Waldesrauschen, gruseligen Monstern, dröhnenden Gewittern und teuflischen Gespenstern in orkanartigem Unwetter. Das Finale steigerte sich zum beeindruckenden Happy End.

Die semikonzertante Umsetzung bezog die Galerie und den Zuschauerraum mit ein, der Chor war bei den Volksszenen in Alltagskleidung angetreten, und Max Urlacher als Samiel war immer zu sehen und kommentierte das Geschehen. Es war ein Hochgenuss, weil keine überzogene Inszenierung den Musikgenuss störte.

Die CD-Einspielung der Produktion ist auf den großen Musikportalen abrufbar (LINK). Im Booklet der CD werden alle Änderungen und Ergänzungen dokumentiert.

 

  • Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Kölner Philharmonie
  • Titelfoto: René Jacobs ©Philippe Matsas
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