Perfekte Familienoper – „Hänsel und Gretel“ in der Oper Köln

Oper Köln/HÄNSEL UND GRETEL/Knaben und Mädchen der Kölner Dommusik © Paul Leclaire

Der international renommierte Kölner Generalmusikdirektor Francois Xavier Roth ließ es sich nicht nehmen, Engelbert Humperdincks Erfolgsoper „Hänsel und Gretel“ selbst einzustudieren. Unterstützt wurde er dabei von der Pariser Regisseurin Béatrice Lachaussée, die mit bezaubernden Bild- und Videoinstallationen von Dominique Wiesbauer (Bühnenbild) und Grégoire Pont und Xavier Boyer (Video) einen absolut märchenhaften romantischen Opernabend kreierten. Musik und szenische Umsetzung harmonierten punktgenau und gaben dem hervorragenden Solistenensemble, dem brillanten Gürzenich-Orchester und den Mädchen und Knaben der Kölner Dommusik den Hintergrund für darstellerische Spitzenleistungen. „Voll mega schön!“, lobte eine junge Dame ihr Opernerlebnis in der Pause. (Rezension der Vorstellung v. 4. Januar 2022)

 

Im Vergleich zum Märchen der Brüder Grimm ist das Libretto von Adelheid Wette, Humperdincks Schwester, sehr entschärft. Die bittere Armut der Familie, die Hunger leidet, weil der Vater das wenige, was er verdient, vertrinkt, mit der Stiefmutter, die arbeiten geht, um das Nötigste zum Leben zu beschaffen, bleibt allerdings bestehen. In Béatrice Lachaussées Inszenierung ist der Vater ein Schausteller, der mit seiner Familie in einem Wohnwagen am Waldrand wohnt.

Die Stiefmutter, mit der Situation überfordert, schickt Hänsel und Gretel in den Wald zum Beerensammeln, nachdem der Krug mit der Milch für den Reisbrei zu Bruch gegangen ist. Die Kinder verirren sich im Wald, schlafen auf dem Waldboden ein, träumen und begegnen schließlich der Hexe, die sie überlisten können. Am Schluss finden die Eltern ihre Kinder wieder, die die Hexe zu einem großen Lebkuchen verbacken haben. Für Kinder sehr attraktiv ist, dass Hänsel und Gretel als Geschwister zusammenhalten und gemeinsam die übermächtige böse Hexe bezwingen. Und es macht Spaß, das Orchester, das vor der Bühne platziert ist mit seinem Dirigenten bei der Arbeit zu sehen.

Schon die acht Minuten lange Ouvertüre, die die populären Melodien der Kinderlieder in wagnerianischer Manier mit Waldromantik verbindet, wird mit einer stummen Handlung und einer Video-Sequenz untermalt. Sie erzählt die Vorgeschichte: den frühen Tod der Mutter, die einen trauernden Vater mit zwei Kindern hinterlässt. Die tote Mutter taucht in der Traumpantomime am Ende des zweiten Akts wieder auf als Geist, der über ihre Kinder wacht und Böses von ihnen wendet.

Oper Köln/HÄNSEL UND GRETEL/Judith Thielsen, Anna Lucia Richter, Kathrin Zukowski © Paul Leclaire

Die sehr breite Bühne wird voll genutzt mit dem Wohnwagen, in dem die Familie am Waldrand wohnt und dem Garten, in dem sich die Aktion zunächst abspielt. Daneben gibt es eine Seitenbühne und den Weg zur Bühne, die szenisch genutzt werden.

Zu Beginn sehen wir Hänsel und Gretel im Spiel, wie sie sehnsüchtig und hungrig auf die Stiefmutter warten, die ihnen Essen mitbringen soll. Publikumsliebling Kathrin Zukowski, zuletzt als Pamina zu sehen, spielt und tanzt die etwas besonnenere Gretel, Anna Lucia Richter, zuletzt als Zerlina 2018 in Köln und 2021 in Salzburg zu sehen, den etwas wilderen Hänsel.  Die beiden jugendlich klingenden Stimmen harmonieren perfekt. Als die Mutter, erschöpft von der Arbeit, heimkommt und feststellt, dass die Kinder die ihnen aufgetragenen Arbeiten nicht erledigt haben, kommt es zum Eklat: der Krug mit der Milch für den Milchreis, den es zum Abendessen geben soll, geht zu Bruch. Adriana Bastidas-Gamboa, in Köln gefeiert als Carmen und Cenerentola, stellt genau die Verzweiflung der überforderten jungen Mutter dar, die in ihrer Not die Kinder zum Beerensuchen in den Wald schickt – sonst gibt es nichts zu essen!

Oper Köln/HÄNSEL UND GRETEL/Miljenko Turk © Paul Leclaire

Den Vater hört man schon aus dem Off an der Seite des Zuschaueraufbaus: er hat gute Geschäfte gemacht und bringt reichlich Lebensmittel – sogar ein Viertelpfund Kaffee! – mit und ist entsetzt, dass seine Frau die Kinder zum Beerensuchen in den Wald geschickt hat. Vater Miljenko Turk schafft es, schon in der Arie „Eine Hex steinalt haust tief im Wald …“ die Bedrohung der Kinder im Wald zu beschwören.

Bühne und Kostüme von Dominique Wiesbauer zeigen zunächst eine trotz Armut heile Kinderwelt im Wohnwagen am Waldrand, später den romantischen geheimnisvollen Wald, von allerlei Tieren bevölkert, und dann nach der Pause den grotesken Überfluss mit dem Hexenhaus. Die Kinder tragen selbst gestrickte Pullover und eine Mütze, die Mutter eine Schwesternuniform und der Vater normale heutige Alltagskleidung, wogegen die Hexe sehr schrill und bizarr in pink mit lila Leggings daherkommt – in die ganz normale Alltagswelt bricht der Horror ein.

Dafür dreht sich die Bühne, und die Eltern begeben sich auf die Suche nach ihren Kindern. Der Waldzauber entfaltet sich in Musik und Bild in der folgenden Szene. Francois Xavier Roth entfacht mit dem Gürzenich-Orchester genau die panische Stimmung, die die Eltern empfinden, wenn sie ihre vermissten Kinder suchen. Er behandelt diese Märchenoper mindestens so sorgfältig wie eine große Oper von Richard Wagner.

Die Kinder sind in der Zwischenzeit auf der Seitenbühne beim Beerensuchen und freuen sich, dass sie so viel gesammelt haben.

Auf der Hauptbühne angekommen merken sie, dass sie sich verlaufen haben. Jetzt kommt die suggestive Musik voll zum Tragen, die die Panik der Kinder in der Dunkelheit beschreibt. Rebecca Murphy als kleiner Sandmann beruhigt die Kinder. Sie steht auf einem drei Meter hohen Podest und muss den Sand nur hinunter rieseln lassen.

Am anderen Morgen aufgewacht und vom Taumännchen (Rebecca Murphy) begrüßt sehen die Kinder das Knusperhäuschen der Josefine Leckermaul, in dem anscheinend jeder Wunsch sofort erfüllt wird. Jasmin Etezadzadeh ist die dämonische Knusperhexe mit tiefen Alt-Tönen, die an Hänsel möglicherweise nicht nur kulinarisches Interesse hat und ihn in einen Käfig sperrt und mästet, um ihn zu verspeisen.

Aber Gretel, die der Hexe zur Hand gehen muss, gelingt es, die Hexe ganz beherzt in ihren eigenen Ofen zu stoßen und den Spieß umzudrehen. Ganz nebenbei befreien sie auch noch eine ganze Schar von 20 anderen Kindern, die der Hexe als Sklaven gedient haben – Mädchen und Jungen der Kölner Dommusik, die sich befreit bedanken. Nachdem der Bann gebrochen ist finden die Eltern ihre Kinder wieder, und alle feiern gemeinsam das Happy End.

Der Trailer zeigt die poetischen Video-Projektionen, die die Waldromantik mit animierten Tieren und Sternenstaub und das Hexenhaus mit dem Überfluss an Süßigkeiten darstellen.

Oper Köln/HÄNSEL UND GRETEL/Dalia Schaechter © Paul Leclaire

Der Wald steht für die unberührte Natur, ist aber auch die Projektionsfläche unserer Ängste. „Die Hexe steht bei uns für etwas Künstlich-Unmenschliches, etwas Kannibalisches, für eine pervertierte Welt, durch die die in vielen Bereichen ausgehungerten Kinder manipuliert werden“, wie Regisseurin Béatrice Lachaussée im Interview mit dem Dramaturg Georg Kehren sagt. Die Musik, die die Hexe charakterisiert, ist dann auch ziemlich schräg und gipfelt in einem dramatischen Zusammenbruch des Hexenreichs, aus dem ganz schüchtern die befreiten Kinder auftauchen. Musik und Bewegung passen perfekt zueinander, weil alles von Annika Wiessner durchchoreographiert ist.

Richard Wagner ist am 13. Februar 1883 in Venedig gestorben und hatte Humperdinck als Assistent bei der Einstudierung seines „Parsifal“ in Bayreuth 1882. Vom Meister hat Humperdinck viele Anregungen zur Tonsprache und zur Überwältigungsästhetik übernommen. Die populären Kinderlieder wie der „Abendsegen“, der von Humperdinck komponiert wurde, die „Hänsel und Gretel“ so bekannt machen, täuschen darüber hinweg, dass vor allem die Orchesterszenen und der Untergang der Hexe von Richard Wagner sein könnten.

„Hänsel und Gretel“, am 23. Dezember 1883 unter der Leitung von Richard Strauss in Weimar uraufgeführt, ist die Mutter aller Familienopern, denn es gibt neben den schlichten, kindgerechten Momenten auch jede Menge große Sinfonik, die das Herz eines jeden Wagner-Fans höherschlagen lassen.

Engelbert Humperdinck konnte jedenfalls nach dem Siegeszug, den seine Oper durch Europa antrat, von den Tantiemen fürstlich leben.

Weitere Aufführungen gibt es bis zum 23. Januar 2022 in der Oper Köln im Staatenhaus.

 

  • Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Oper Köln / Stückeseite  
  • Titelfoto: Oper Köln/HÄNSEL UND GRETEL/Anna Lucia Richter, Kathrin Zukowski © Paul Leclaire
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2 Gedanken zu „Perfekte Familienoper – „Hänsel und Gretel“ in der Oper Köln&8220;

  1. Echt jetzt? „Könnte von Richard Wagner sein“… So ein Unsinn. EH war kein Epigone. Sonst hätten seine Werke wohl auch nicht überlebt. Und übrigens: Die Geschichte mit der Stiefmutter ist von der Regiesseurin erfunden worden. Im Originallibretto ist es die leibliche Mutter Wenn Sie schon mehr über die Handlung als über die musikalische Darbietung schreiben, dann informieren Sie sich doch bitte vorab.

    1. Das ist richtig. Das ist die künstlerische Freiheit der Regisseurin, die in der Traumpantomome, in der in klassischen Inszenierungen die 14 Engel auftreten, den Geist der toten Mutter (die es ja bei den Brüdern Grimm gibt) beschwört, der die Kinder beschützt.
      Wenn Sie eine klassische Inszenierung sehen wollen müssen Sie nach Düsseldorf oder Duisburg fahren, die haben noch 14 Engel am Start.
      Musikalisch ist die Kölner Inszenierung über jeden Zweifel erhaben.

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