Oper Leipzig: Berührende Inszenierung von „Der Freischütz“

Oper Leipzig/DER FREISCHÜTZ/Foto @ © Ida Zenna (2017)

Die Handlung von Carl Maria von Webers dreiaktiger romantischer Oper Der Freischütz mit einem Libretto von Friedrich Kind spielt in Böhmen kurz nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges. Diese Oper, die am 18. Juni 1821 im Schauspielhaus Berlin uraufgeführt wurde, stellt eine Gesellschaft dar, in der Menschen akzeptiert werden, nur wenn sie sich an bestimmte Normen halten. Wer die sozialen Erwartungen nicht erfüllt, wird ausgegrenzt. Der Freischütz zeigt einige der verschiedenen Möglichkeiten, diesem schmerzhaften Schicksal zu entgehen: Max wird vom ausgestoßenen Betrüger Kaspar dazu verführt, Freikugeln zu gießen, damit er den Probeschuss bestehen kann, um Agathe zu heiraten. (Rezension der Vorstellung vom 15.04.2023

 

Um Agathe, die Tochter des gegenwärtigen Erbförsters Kuno, heiraten zu können, muss Max durch Erfolg bei einem Probeschuss beweisen, dass er würdig ist, ein zukünftiger Förster zu werden (Kuno hat keinen Sohn und braucht daher einen Schwiegersohn als Nachfolger). Max gibt zu, dass er mit Kaspar Freikugeln geschaffen hat, damit er den Probeschuss bestehen konnte. Kuno befiehlt Max, sein Land sofort zu verlassen und nie wieder zurückzukehren. Der Eremit, der von der Bevölkerung und Kuno als Heiliger verehrt wird, erscheint und überredet Kuno, Max zu verzeihen. Der Eremit erklärt, Max sei von einem Bösen vom Pfad der Tugend verführt worden, weil er das höhere Ziel verfolgte, Agathes Liebe zu erlangen. Das Ergebnis eines Probeschusses sollte keineswegs die Zukunft des Paares bestimmen. Kuno nimmt den Vorschlag des Eremiten an: Max soll ein Probejahr absolvieren, nach dem er Agathe heiraten kann. Der von Kunos Großonkel erfundene Probeschuss wird abgeschafft. Somit hat die Liebe über eine leere Tradition gesiegt.

Webers Partitur ist geprägt von einfallsreichen Melodien, meisterhafter Orchestrierung volkstümlicher Musik sowie einer tiefgründigen psychologischen Charakterisierung. Kein Geringerer als Ludwig van Beethoven bewunderte Der Freischütz.  [Canisius, Claus. Beethoven »Sehnsucht und Unruhe in der Musik«. München: R. Piper GmbH & Co. 1992, Seiten 168-169.].
Beethoven zeigte bei einem gemeinsamen Mittagessen großen Respekt vor dem sechzehn Jahre jüngeren Weber. Leider waren Webers zwei nachfolgende Opern, Euryanthe (1823) und Oberon (1826), vor seinem frühen Tod misslungen.

Oper Leipzig/DER FREISCHÜTZ/Foto @ © Ida Zenna (2017)

Die Wiederaufnahme der Inszenierung von Christian von Götz aus dem Jahr 2017 an der Oper Leipzig am 15. April 2023 hat sowohl die übernatürlichen als auch die gesellschaftlichen Elemente des Werks erfasst. Das Bühnenbild von Dieter Richter und die Kostüme von Jessica Karge ließen vage an die Entstehungszeit der Oper erahnen und deuteten gleichzeitig auf Kleider und Kulissen aus heutiger Zeit an. Vor allem aber zeigt die Inszenierung die Gefühle der Figuren und ihre Beziehungen zueinander. Die Szene in der Wolfsschlucht ist angemessen erschütternd, ohne dass eine wörtliche Interpretation der Anweisungen des Librettos versucht wird. Die Sängerbesetzung und der Chor widmeten sich Webers Musik mit Hingabe zu diesem Schlüsselwerk des deutschen Opernrepertoires.

Sarah Traubel stellte Agathe als unschuldig, mädchenhaft und zutiefst in Max verliebt dar. Traubel zeigte Agathes Angst um Max, als er im 2. Akt, Szene 3, seine Absicht ankündigte, um Mitternacht die Wolfsschlucht zu besuchen. Ihre reiche Sopranstimme lässt erkennen, dass Agathe eine innere Weisheit besitzt und nicht nur naiv ist. Tatsächlich zeigt Agathe laut Libretto unerschütterliche Liebe und Unschuld in einer Weise, die keine Unvernunft impliziert (Agathe ist nicht Elsa). Traubel gelingt es, all diese Facetten Agathes Charakters in ein abgerundetes Porträt der Rolle zu projizieren, wie es eigentlich sein sollte, aber nur selten in der Aufführung realisiert wird.

Ein weiterer Höhepunkt des Abends war Samantha Gauls witzige, ironische und verspielte Interpretation von Agathes Cousine Ännchen mit dem richtigen Maß an Sarkasmus. Ännchen ist im Allgemeinen eine hilfsbereite Freundin, aber sie scheint weder die Aufrichtigkeit von Agathes Gefühlen für Max noch ihre Ängste zu verstehen, die der Eremit in der Eröffnungsszene des Librettos, das Weber nie vertonte, in ihr weckt. Gaul ist neckisch, spöttisch und verführerisch in ihrem Schauspiel, das mit ihrer hellen Sopranstimme einhergeht.

Peter Sonn ist ein mitfühlender, entschlossener Max, der bei den Probeschüssen erstaunlicherweise immer wieder seine Ziele verfehlt. Sonns glockenheller Tenor suggeriert Jugend und Vitalität, aber auch einen Mann, der erwachsen wird und bereit ist, mit Agathe ein Familienleben zu beginnen. Gleichzeitig strahlt Sonn Liebenswürdigkeit aus, was die Sympathie der Bauern und des Einsiedlers für ihn am Ende des dritten Aktes erklärt, als Kuno ihn verbannen will.

Opernhaus Leipzig/ Foto © Kirsten Nijhof

Es ist zu einfach, Kaspar als Übeltäter zu interpretieren, angesichts der Verzweiflung, die sein Lied in Akt 1, Szene 5 offenbart: „Hier im ird’schen Jammertal / Wär‘ doch nichts als Plack und Qual, / Trüg‘ der Stock nicht Trauben“. Nach seinem Lied erklärt Kaspar Max: „Ich diente noch als Milchbart unter dem Altringer und Tilly, und war mit beim Magdeburger Tanz; unterm Kriegsvolk lernt man solche Schelmliedlein“. Bei der Magdeburger Hochzeit am 20. Mai 1631 kam es zu einem Massaker an rund 20.000 Zivilisten, ein Ereignis, an dem Kaspar beteiligt war. Kein Wunder, dass Kaspar Unterhaltung und sinnliches Vergnügen als die einzigen Aktivitäten ansieht, die das Leben erträglich machen. Der Bass Tuomas Pursio porträtiert Kaspar als lebensmüde und traumatisiert von den Schrecken, die er während des Militärdienstes erlebt hat. Kaspar bittet Samiel im 2. Akt, Szene 5, Max als Opfer anzunehmen, um die Frist für das Ende seines eigenen Lebens um weitere drei Jahre zu verlängern. Samiel antwortete zweideutig: „Morgen er oder du!“. Kaspar, der von Agathe zurückgewiesen wurde, möchte, dass die siebte Freikugel sie trifft, aber Samiel beschließt, Kaspar selbst zu töten. Pursios Darstellung, unterstützt durch seine schwarze Bassstimme, erweckte den Eindruck, dass Kaspar bereit war, zu sterben und von seinem Elend erlöst zu werden.

Samiel, der schwarze Jäger, wurde von der Tänzerin Verena Hierholzer aufgeführt. Hierholzer erhob diese Sprechrolle zu einer aktiven Figur, die das Geschehen beeinflusste und deutlich machte, dass Kaspars Zeit abgelaufen ist, bevor er am Ende der Oper von einer Freikugel getroffen wurde. Die kleinen Rollen wurden von Karel Martin Ludvik (Kuno), Jonas Böhm (Kilian), Franz Xaver Schlecht (Ottokar), Daniel Eggert (Ein Eremit), Andreas David (Erster Jäger) und Klaus Bernewitz (Zweiter Jäger) gesungen und gesprochen. Die Brautjungfern wurde von Eliza Albert, Katrin Bräunlich, Kamila Dziadko und Catrin von Rhein übernommen.

Unter der musikalischen Leitung von Lukas Beikircher musizierten das Gewandhausorchester und der Chor der Oper Leipzig mit Genauigkeit und leidenschaftlicher Auseinandersetzung mit Webers überschäumender Partitur. Obwohl Beikircher breite Tempi wählte, erlaubte er nicht, dass die Spannung nachließ oder die Pausen zu lange verweilten. Flotte Tempi und eine leichte Textur hätten die Tatsache unterstrichen, dass Webers Oper, die häufig als Prototyp der deutschen Romantik bezeichnet wird, ein direkter Nachkomme der Singspiel Tradition ist, die Werke wie Wolfgang Amadé Mozarts Die Zauberflöte hervorgebracht hat.

 

  • Rezension von Dr. Daniel Floyd / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Oper Leipzig / Stückeseite
  • Titelfoto: Oper Leipzig/DER FREISCHÜTZ/Foto @ © Ida Zenna (Fotos der Premiere aus 2017)
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