Das Walpurgisnacht-Bacchanal auf dem Blocksberg oder der Hexentanzplatz in Thale, auf welchem die Szenen aus Goethes „Faust“ lebendig werden – kein anderes Mittelgebirge ist so stark mit Figuren der Märchen- und Geisterwelt verbunden wie die Region des Harzes. Genauso wie die diabolischen Sagenfiguren ist auch der Fliegender Holländer in der gleichnamigen romantischen Oper von Richard Wagner zur ewigen Rastlosigkeit verdammt. Seit Jahrhunderten segelt er über die Weltmeere auf der Suche nach einer Frau, die ihn erlösen kann. An seiner Spielstätte in Halberstadt – das Tor zum Harz – zeigt das Nordharzer Städtebundtheater den „Fliegenden Holländer“ in der Inszenierung von Birgit Kronshage mit Fokus auf die Figur der Senta als einzige starke Frau einer männerdominierten Welt. Womöglich wird manch ein Bayreuther Festspielbesucher mit dem Ausdruck „Provinz“ über die kleinen Bühnen in Mitteldeutschland die Nase rümpfen; dass in Halberstadt frische, unverbrauchte Stimmen in kleinem, gar kammermusikalischem Rahmen den Opern Richard Wagners eine gänzlich andersartige Intimität verleihen, berichtet unser Redakteur Phillip Richter.(Rezension der Aufführung v. 7.Dezember 2019)
In den ersten Reihen spürte man eine greifbare Nähe zu den Solisten, wie man sie sonst nur von Liederabenden kennt. Denn die Bühne des Stadttheaters Halberstadt misst lediglich eine Breite von etwa zehn Metern, aus Platzgründen wurde der Orchestergraben für diese Produktion von der Szene weitestgehend überbaut, wodurch jede Mimik im Gesicht der Solisten deutlich für das Publikum zu erkennen war. Die Aufführung einer Oper von Richard Wagner, ein Komponist, der beispielsweise für seinen Ring-Zyklus 32 Violinen forderte, ist für kleine Häuser stets ein Kraftakt in musikalischer als auch organisatorischer Hinsicht. Umso beachtlicher, dass die die künstlerischen Ergebnisse – szenisch als auch musikalisch – in Halberstadt zur vollsten Zufriedenheit dem gefesselten Publikum imponierten. Johannes Rieger, langjähriger Chefdirigent der Harzer Sinfoniker und gleichzeitig Intendant leitete mit langsamen und ruhigen Tempi in das Vorspiel ein, zog diese jedoch merklich an und wusste so die Spannung aufrecht zu halten. Aufgrund der dünnen Streicherbesetzung und der unmittelbaren Nähe des Orchesters am Zuschauerraum konnten selbst erfahrende Wagnerianer noch einmal ganz neue Motive entdecken, die in großer romantischer Orchesterbesetzung mitunter verloren gehen. Dass gelegentlich die Einsätze der Orchestermusiker asynchron erklangen und die Blechbläser stellenweise grob intonierten, sei aufgrund des ansonsten vorbildlichen Zusammenspiels zwischen Sängern und Orchester jedoch verziehen. Bewundernswert auch, wie der knapp bemessene Opernchor des Nordharzer Städtebundtheaters das Theatergebäude mit rundem, saftigem Vokalklang ausfüllte.
Die vier Hauptrollen wurden mit Ensemblemitgliedern des Hauses besetzt. Diese Leistung, eine solch herausfordernde Oper ohne Gastsänger bewältigen zu können, ist positiv zu honorieren. Aufgrund exzellenter Aussprache und vorbildhafter Phrasierung der Solisten waren die mangelnden Obertitel nicht zu missen. Annabelle Pichler mit dramatisch-markanter, aber fester Stimme gab eine selbstbewusste und provokante Senta. Ihr gegenüber charakterisierte Ünüşan Kuloğlu einen szenisch schwachen Erik, der ab seinem ersten Auftritt keinerlei Chancen gegen die Magie eines fliegenden Holländers zu haben schien. Kuloğlu verfügte jedoch über vokale Durchschlagskraft und sichere Höhen, wodurch er die beiden Erik-Kantilenen mühelos meisterte. Juha Koskela überzeugte mit sonorem, eindrücklichem und kraftvollem Bariton zwar stimmlich, ließ jedoch in seiner Gestik an Leidenschaft und Verzweiflung dieser Sagengestalt des Holländers etwas missen. Gijs Nijkamp sang einen Daland mit ungewohnt lyrischer und heller Bassstimme, wobei er eine geradezu liedhafte Gewissenhaftigkeit bei der Phrasierung zeigte.
Die Schiffe angedeutet durch Taue und Seile und der Auftritt des Holländers untermalt in mystischer Nebelszenerie: Birgit Kronshage inszeniert das Werk Wagners in minimalistischer Ausstattung, aber gleichsam stringent und schlüssig. Ihre Librettonahe Interpretation baut auf einer feministischen Charakterisierung der Rolle der Senta auf, die sich – als Außenseiterin gekleidet in leuchtend türkisem Kleid – von den farblosen, gleichmachenden Kitteln der anderen Frauen absetzt. Durch das Agieren in prachtvollen Gewändern stellen die Männer ihre Macht gegenüber dem anderen Geschlecht eindrücklich zur Schau. Die Personenregie erscheint in den ersten Szenen erfrischend unterhaltsam, wie beispielsweise beim Matrosenchor im hitzigen Wechselspiel mit Daland und dem Steuermann, lässt jedoch im Laufe des Abends etwas nach. Insbesondere die szenische Umsetzung der langatmigen Duette im zweiten Akt fiel in eine improvisatorische Beliebigkeit ab. Letztendlich schuf Kronshage für diese Inszenierung ein starkes Schlussbild: Im Sturm öffnet Senta selbstbewusst ihr wehendes Haar, wirft die Schürze als Symbol der dienenden Hausfrau von sich und entsagt so ihrem patriarchal auferlegtem Schicksal. Als gleichberechtige, moderne Frau „treu ihm bis zum Tod“ an der Seite des fliegenden Holländers reichen beide sich im Aufbruch in ein neues Zeitalter verheißungsvoll die Hände.
In Verbindung mit einem Ausflug in den Harz ist der Besuch einer Opernproduktion im Nordharzer Städtebundtheater gerade aufgrund des harmonierenden Ensembles wärmstens zu empfehlen. Eine damit einhergehende Besichtigung der Sankt-Burchardi-Kirche in Halberstadt sollte für jeden Musikliebhaber Teil des kulturellen Pflichtprogramms sein. Denn an der dortigen Orgel wird seit 2001 eine der bedeutendsten Installationen für Musik der Moderne – John Cages „As Slow as Possible“ (auch ORGAN²/ASLSP) – als längstandauerndes Musikstück der Welt aufgeführt. Die rekordverdächtige Kunst- und Klanginstallation wird erst nach 639 Jahren ihren Abschluss finden – einem Zeitraum, der für den Fliegenden Holländer lediglich wie ein Wimpernschlag erscheinen mag.
- Rezension von Phillip Richter / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Nordharzer Städtebundtheater / Stückeseite
- Titelfoto: Harztheater/DER FLIEGENDER HOLLÄNDER/ Foto @ Ray Behringer