
Was war da am gestrigen Abend im Theater Bielefeld zu erleben? Um es in zwei Worten zu beschreiben: eine Sternstunde! Eine Sternstunde für dieses Ostwestfälische Opernhaus, für die Oper und auch für die szenische Umsetzung der 1945 uraufgeführten Oper PETER GRIMES von Benjamin Britten. Ein Opernabend auf internationalem Niveau, der einmal mehr beweist, dass es nicht immer großer Metropolen bedarf, um bedeutende Werke der Opernliteratur eindrucksvoll auf die Bühne zu bringen. Und zwar so, dass man als Zuschauer und Zuhörer auf allen Sinnesebenen gefangen und mitgerissen wird. Solche Sternstunden sind selten, sie werden auch immer seltener. Aber wenn es sie dann gibt, dann sollte man sie auch so benennen. Und so eine Sternstunde fand gestern in Bielefeld statt. Für mich als Herausgeber von DAS OPERNMAGAZIN ist es heute eine Ehre und eine Freude zugleich, über diesen Premierenabend zu schreiben. Ein Premierenabend, wie ich ihn in solcher Intensität in den letzten Jahren nur selten erlebt habe. Mit Brittens faszinierend-genialer Oper PETER GRIMES gab der neue Bielefelder GMD Robin Davis einen Einstand von besonderer Güte. Seine Lesart der Komposition von Benjamin Britten war direkt, war impulsiv, war dramatisch aber auch so ungemein zart. Und mit einem Sänger-Darsteller wie es Nenad Čiča in der Hauptpartie ist, verfügt das Theater Bielefeld über einen nahezu idealen „Peter Grimes“. Und wenn das alles noch in eine Regie verpackt wird, wie dies durch den Südafrikanischen Regisseur Matthew Wild stattfand, kam alles zusammen, was einen Opernabend eben zu etwas ganz Besonderem werden lässt. Minutenlanger Jubel des Premierenpublikums war der sehr verdiente Dank an das gesamte Ensemble!
Die Oper und ihre Handlung
Benjamin Brittens Oper PETER GRIMES, 1945 im Londoner Sadler’s Wells Theatre uraufgeführt, gehört zweifelsohne zu den bedeutendsten Opern des 20. Jahrhunderts. Brittens musikalische Sprache in dieser Oper ist stark inspiriert durch seine ostenglischen Wurzeln. Der 1913 in der Küstenstadt Lowestoft in der Grafschaft Sussex geborene Benjamin Britten weiss durch seine Komposition die Rauigkeit der Natur, und vielleicht auch der dort lebenden Menschen, spürbar zu vermitteln und in Töne umzusetzen. Und auch die musikalische Zeichnung seiner Protagonisten ist es immer wieder, die die Faszination PETER GRIMES ausmacht.

Das Libretto stammt von Montagu Slater, der es nach dem englischen Gedicht »The Borough« von George Crabbe verfasst hat. Die Handlung spielt um 1830 in einem Fischerdorf an der wilden Ostküste Englands. Der Fischer Peter Grimes lebt dort zurückgezogen, gilt als seltsamer Eigenbrötler und gerät in Konflikt mit der Dorfgemeinschaft, die ihn des Mordes an seinem jungen Lehrling beschuldigt und ihn dafür bestraft sehen will. Der Richter stuft diesen Fall aber als unglücklichen Unfall ein und spricht Grimes von der Anklage frei. Den Dorfbewohnern gefällt dieses Urteil nicht, aber sie nehmen es erst einmal hin. Grimes erklärt aber direkt nach dem Freispruch, dass er für seine Arbeit einen neuen Lehrling brauche, da er diese nicht allein schaffen kann. Ihm wird aber auferlegt, nicht wieder einen Knaben als Lehrjungen einzustellen. Es sollte dann ein Geselle sein. Aber Grimes besteht auf einen neuen Lehrling. Der Apotheker Ned Keene ist es, der ihm wieder -gegen Honorar- einen Jungen aus dem Waisenhaus (gefühlvoll gespielt Sharjil Khawaja) vermittelt und Ellen Orford, die Grimes heimlich liebt, erklärt sich als einzige bereit, den Jungen zu Grimes zu bringen. Sie steht damit allein in der Dorfgemeinschaft, die allesamt Grimes schon längst zum pädophilen Außenseiter erklärt haben. Grimes nimmt diesen Jungen mit in sein Fischerhaus an den Klippen. Während eines Streitgespräches zwischen ihm und dem Jungen, stürzt dieser die Küstenklippen hinunter. Für die Dorfbewohner ist klar, was dort passiert ist. Sie haben ihr Urteil über Peter Grimes längst gefällt. Kapitän Balstrode rät ihm, mit seinem Boot aufs Meer zu fahren und dort unterzugehen. Grimes sieht keinen Ausweg aus seiner Lage und folgt dieser Anweisung. Für die Menschen im Dorf aber geht das Leben weiter. Die Fragen wurden nicht beantwortet, aber der offenbar Schuldige gerichtet.
Er war es! War er es?
Der Südafrikanische Regisseur Matthew Wild zeigt die völlige innere Zerrissenheit dieses Antihelden Peter Grimes und sein hoffnungsloses Sehnen nach einem glücklichen Leben mit Ellen Orford in schonungslosen Bildern auf. Grimes, dem die Dorfbewohner unterstellen, junge Lehrlinge aus niederen, gar sexuellen, Gründen zu sich in die Fischerhütte zu holen, ist der kollektiven Meinung des Mobs ausgeliefert und lässt dies scheinbar unbeeindruckt an sich abprallen. Für den Traum einer reichen Fischernte, mit der er für sich und Ellen ein sorgenfreies Leben ermöglichen will, braucht er die Hilfe eines Lehrlings. So argumentiert er und so ist es auch für ihn. Aber ist dies allein der Grund? Ist es nicht viel mehr so, dass Grimes, der einsame Einzelgänger, nicht viel mehr auch die Nähe, die Zärtlichkeit zu einem jungen Mann sucht? Jene Nähe, die ihm die Menschen im Dorf so vehement verweigern? Sucht er einfach nur Liebe und erkennt, dass diese Liebe für ihn und das Leben in dieser Umgebung unerreichbar ist? Hat er die beiden Jungen gequält oder hat er sich mit seiner Veranlagung selbst gequält? Für die Menschen im Dorf ist die Antwort klar und eindeutig: Er war es! Er, den sie „Homo“ und „Pädo“ schimpfen, ist für das grauenvolle Schicksal der beiden Lehrjungen verantwortlich. Gerüchte werden zur Realität, Gefühle zu Scheingefühlen, menschliches zu unmenschlichem. Aus Meinung wird Fakt.

Wild spielt intelligent und überzeugend mit den Vorurteilen der Gesellschaft. Einer Gesellschaft, der vieles fremd ist und die nicht bereit ist, Neues kennenzulernen. Wie er den Bielefelder Chor und Extrachor (hervorragend einstudiert von Hagen Enke) in ständige Position gegen Grimes bringt, ist beklemmend und wirkt bedrohlich. Der Einzelgänger wird zum Aussätzigen gemacht. Aber gerade durch diese Szenerie wird Grimes bei Matthew Wild zu einem Mann, dem bei allem, was ihn an scheinbarer Grobschlächtigkeit ausmacht, auch das Gefühl des Mitleids zuteil wird. Wild zeigt einen Peter Grimes, der abseits der bereits vorgefertigten Meinung der Dorfbewohner, auch ein Mensch voller Sehnsüchte und Gefühle ist. Bei Wild ist Peter Grimes am Ende das Opfer als viel mehr der erklärte Täter. Das Opfer von übler Nachrede, Ressentiments und Fehlurteilen gegen Menschen, die irgendwie – und auf eigene Weise -, anders sind, weil sie nicht der Mehrheit angehören.
Das Einheitsbühnenbild (Bühne/Kostüme: Conor Murphy) bildet den Rahmen für die verschiedenen Örtlichkeiten der Handlung und wird je nach Situation durch Beleuchtung und spärlichen Requisiten umgestaltet. Es sind die handelnden Personen der Oper, die in dieser Inszenierung das Gesamtbild erschaffen und die den gesamten Raum der Bielefelder Bühne für die Darstellung nutzen. Die Mitte der Bühne wird durch einen Wassergraben geteilt, der die Nähe zum Meer symbolisieren soll. Am Ende wird dieser Graben das nasse Grab des Peter Grimes ein.
Während der expressiven Orchesterzwischenspiele zwischen den einzelnen Akten lässt Regisseur Wild Videos (Video: Roman Hagenbrock, Movement Director: Nikos Fragkou) auf den Bühnenvorhang projizieren, die, in ausdrucksstarkem Schwarz-Weiss gefilmt, von ungeheurer suggestiver Kraft sind. Zu jedem dieser Zwischenvideos erscheint eine Person der Handlung vor dem Vorhang und der Eindruck entsteht, dass die Gedanken und Verdächtigungen dieser Person filmisch umgesetzt werden. In kunstvoller Bildersprache wird Peter Grimes Verhalten zu dem Lehrjungen (großartig dargestellt von Roland Kansteiner) gezeigt, seine scheinbare erotische Beziehung, sein Verlangen nach dem jungen Mann, aber auch der Mord an eben diesem. Aber im gleichen Moment spult der Film zurück und geht auf Anfang. Wenn auch vieles filmische Fiktion war, so hatten diese Videosequenzen Gänsehautcharakter und erzielten eine tiefe Wirkung im Zusammenspiel mit Brittens genialer Musik.
Bravo an Matthew Wild und sein Regieteam für diesen unter die Haut gehenden Peter Grimes!
Die musikalische Umsetzung überzeugt auf ganzer Linie

Mit Nenad Čiča steht ein Peter Grimes auf der Bielefelder Bühne, der einerseits die schwere gesangliche Tenorpartie souverän meistert, der in seinem emotionalen Ausbruch im letzten Bild der Oper gesanglich fesselt, der aber auch darstellerisch dieser anspruchsvollen Rolle voll und ganz gerecht wird. Eindrucksvoll seine schauspielerische Leistung in den beklemmenden Videoeinspielungen zwischen den Akten. Eine fesselnde Sänger-darstellerische Leistung für die er vom Publikum zu recht mit Ovationen bedacht wurde.
Dušica Bijelić stellte die Ellen Orford als verletzliche, liebende Frau dar, die fast bis zum Schluss an Peter Grimes geglaubt hat und an ihm festhielt. Ganz besonders berührend ihr Gesang und ihr Spiel in der großartigen „Embroidery Aria“ im letzten Akt, in dem sie verzweifelt erkennen muss, dass die Liebe zu Grimes nun ein Ende gefunden hat.
Der Bariton Evgueniy Alexiev stellte einen markig singenden und souverän spielenden Balstrode dar. Er spielte einerseits den Verbündeten von Peter Grimes, war aber auch am Ende dieser Inszenierung sein Vollstrecker. Eine beeindruckende Leistung des bulgarischen Sängers.
Dalia Schaechter als Auntie, Marta Wryk als Miss-Marple-Verschnitt Mrs. Sedley, sowie Mayan Goldenfeld und Cornelie Isenbürger als „Nichten“ der Barbetreiberin Auntie, boten in den großen Ensemblemomenten, aber auch in ihren jeweiligen Soli überzeugende, stiltypische, Rollendarstellungen. Mit Lorin Wey als Bob Boles, Bryan Boyce als sehr überzeugendem Swallow, Tod Boyce als umtriebiger Ned Keene, Andrei Skliarenko als Rev. Adams und Moon Soo Park als Hobson waren auch die weiteren männlichen Solopartien dem hervorragenden Gesamteindruck der Vorstellung bestens besetzt.
Der in dieser Oper so wichtige Chor und Extrachor des Theater Bielefeld meisterte seine Aufgabe auf besonders überzeugende Weise und wurde zudem darstellerisch von der Statisterie des Bielefelder Theaters unterstützt. Viel Applaus natürlich auch für den Chor und die Statisterie.
GMD Robin Davis leitete die präzise aufspielenden Bielefelder Philharmoniker durch diese ausdrucksstarke und bildreiche Partitur. Für Davis, der mit Peter Grimes seinen Einstand als neuer Bielefelder GMD feierte, wurde diese Premiere zu einem großen persönlichen Erfolg. Seine Lesart und Interpretation der Komposition von Benjamin Britten war direkt, war impulsiv, dramatisch, aber auch so ungemein zart und feinfühlig. Ein Einstand nach Maß für den neuen Bielefelder Generalmusikdirektor, für den ihn das Publikum feierte.
FAZIT
Ein Abend voller packender Emotionen, mit hin- und mitreißender Musik und einer in ihrer Gesamtheit höchst überzeugenden Interpretation der Oper Peter Grimes, die eine unbedingte und absolute DAS OPERNMAGAZIN – EMPFEHLUNG wert ist!
- Rezension von Detlef Obens / DAS OPERNMAGAZIN
- Theater Bielefeld / Stückeseite
- Titelfoto: Theater Bielefeld/ PETER GRIMES/ Roland Kansteiner, Sharjil Khawaja, Nenad Čiča/ Foto © Bettina Stöß