„Der fliegende Holländer“ als Sentas Erlösung in der Oper Köln

Oper Köln/FLIEGENDE HOLLÄNDER/Joachim Goltz, Statisterie der Oper Köln, Lucas Singer/Foto © Karl & Monika Forster

Francois Xavier Roth dirigiert einen musikalisch großartigen „Holländer“ in der Oper Köln. Chor und Extrachor der Oper Köln, das Gürzenich-Orchester und die hochkarätigen Solisten begeistern in fast zweieinhalb Stunden ohne Pause das Publikum. Regisseur Benjamin Lazar verlegt das Stück in die 1990-er Jahre von Norwegen nach Osteuropa, was nicht unproblematisch ist. (Gesehene Vorstellung am 15. April 2023)

 

Die Ouvertüre entwickelt aus den Motiven, die man kennt, die Geschichte. Bereits da hat Francois Xavier Roth mit dem Gürzenich-Orchester den hohen musikalischen Standard gesetzt, dem die ganze Aufführung genügt. Der von Senta, einer Frau im Business-Outfit, gesprochene Prolog bezeugt, dass es hier um ihre Sicht der Dinge geht. Sie kehrt an den Ort ihrer Jugend zurück, um zu verstehen, „wer ich für immer geworden bin.“ Offensichtlich hat sie sich nicht für das Heil des Holländers geopfert.

Der auf mindestens 80 Sänger und Sängerinnen verstärkte Chor der Oper Köln unter der Leitung von Rustam Samedow erzählt die wahre Geschichte. Absolut präzise und bei der Konfrontation mit dem Geisterchor auch körperlich aktiv – es gibt eine Schlägerei, bei der die schwarz gekleideten Männer des Holländers nach Strich und Faden vermöbelt werden – stellt der Chor die Typen eines ganzen Dorfs dar. Die Damen überzeugen im Spinnerinnenlied, das zum Rhythmus von Spinnrädern zeigt, wie die Frauen des Dorfs eine überlebensgroße Puppe schmücken.

Richard Wagner ist mit seiner Vertonung der Sage vom fliegenden Holländer, der Heinrich Heines Kapitel aus den 7. Kapitel der „Memoiren des Herrn Schnabelewopski“ zu Grunde liegt, sein erstes eigenständiges Werk gelungen. Die Chöre der Seeleute haben längst Volksliedcharakter, die Konfrontation des Norwegerchors mit dem Geisterchor ist ein Meisterwerk der Verwendung zweier Opernchöre als dramatische Handlungsträger, und die Dreiecksgeschichte von Senta, dem Holländer und ihrem Verlobten Erik ist einfach nur zeitlos. Das Orchester stellt hohen Wellengang und gefährlichen Sturm dar. Der dreißigjährige Wagner verarbeitet hier seine stürmische Überfahrt über die sturmgepeitschte Ostsee von Riga nach England, bei der er in schwerer See um sein Leben bangte. Francois Xavier Roth holt alles aus dem Gürzenich-Orchester heraus, was an Dynamik in Tempo und Lautstärke möglich ist, und der Chor zieht mit.

Kernstück der Handlung ist die Ballade der Senta, in der sie die Geschichte des zur ewigen Irrfahrt verdammten Kapitäns erzählt, der bei der Umsegelung des Kaps Horn dem Teufel getrotzt hat und von ihm zu ewiger Verdammnis verurteilt wurde. In Heines Novelle hat Wagner sein Thema gefunden: die Erlösung des Mannes durch die Liebe einer Frau, das er auch in Tannhäuser ausgeführt hat.

Zu diesen Zweck darf der Holländer alle sieben Jahre an Land kommen und versuchen, eine Frau zu finden, die ihm Treue bis zum Tod schwört. In Wagners Libretto der Oper finden Senta und der Holländer Erlösung und Verklärung im Tod. Nachdem Senta den Freitod durch einen Sprung ins Meer gewählt hat, entmaterialisiert sich das Schiff des Holländers, und der Spuk ist vorbei. In der Fassung von 1860 fährt Senta mit dem Holländer verklärt in den Himmel auf, und die Harfen bestätigen die Erlösung der beiden im Tod. Dieser Schluss ist so nicht mehr vermittelbar, denn heute suchen die Menschen Glück und Erfüllung im Leben vor dem Tod.

Regisseur Benjamin Lazar macht sich daher bewusst, dass Wagners Oper in einer Zeit des Umbruchs entstanden ist. Die Industrialisierung, die mit entsprechenden Auswirkungen auf die Wirtschafts- Gesellschafts- und Staatsordnung aus dem Agrarland Deutschland eine präindustrielle Gesellschaft machte, fand zeitgleich mit Wagners Komposition statt. Aber Wagner greift alte Seemannsmythen auf und lässt die Sagenfigur des Holländers auftreten, der zu ewiger Wanderung auf den Weltmeeren verurteilt ist und der sich nach dem Tod sehnt. Finstere Mächte und Spuk spielten in der Zeit der Romantik eine große Rolle.

Oper Köln/FLIEGENDE HOLLÄNDER/Damenchor der Oper Köln, KS Dalia Schaechter/Foto: © Karl & Monika Forster

Senta will nicht mit den anderen Frauen spinnen, sondern erzählt ihnen die Sage vom fliegenden Holländer, von dem sie fasziniert ist. Damit stellt sie sich außerhalb dieser Dorfgemeinschaft. Sie erwartet mehr vom Leben! In Dalands Haus hängt laut Libretto das Gemälde „eines bleichen Manns mit dunklem Barte und in schwarzer spanischer Tracht“. Der Holländer muss mindestens 300 Jahre alt sein! Die Fixierung Sentas auf das Bild eines Mannes, dem die verfallen ist, findet Entsprechung in der im Programmheft abgedruckten Erzählung „Von der Liebe“ der 1948 in der Ukraine geborenen Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, in der eine Frau ihren Mann und ihre drei Kinder verlässt, um einen Strafgefangenen zu heiraten, der ihrem Bild vom ersehnten Bräutigam entspricht.

Lazar verortet die Geschichte in einem sozialistischen Staat um 1990 kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Senta hat ihre Begegnung mit dem Holländer überlebt und erzählt aus der Erinnerung über ihre Fixierung auf den Holländer und den Bruch ihrer Beziehung zum Jäger Erik.

Die Abhängigkeit der Seefahrer von Wind und Gezeiten spielt 1990 keine Rolle mehr, der erste Aufzug ist einfach eine zufällige Begegnung Dalands mit dem Holländer, der sich als Waffenhändler erweist. Er hat kein Gold, keine Perlen oder Juwelen in seiner Kiste, sondern Kalaschnikows. Daland wittert den interessanten Geschäftspartner und verspricht ihm die Hand seiner Tochter. Unfreiwillig komisch ist, dass Daland sich eine Pistole aus der Kiste des Holländers nimmt und sie später statt Schmuck Senta präsentiert.

Zum Lied der Spinnerinnen wird kein Spinnrad betätigt, sondern zum typischen Spinnrhythmus eine Puppe mit einem schönen aufwändigen Kleid ausgestattet.

Das Fest, das die Segler anlässlich ihrer Rückkehr in den sicheren Hafen feiern, wird umgedeutet in die Feierlichkeiten zum Masleniza-Fest (Butterfest), bei dem in osteuropäischen Ländern am Karnevalssonntag eine überlebensgroße Puppe einer jungen Frau verbrannt wird, um den Sieg über Winter und Tod zu feiern, und die Männer sich als Wilde und als Tiere verkleiden, um den tierischen, lüsternen und gewalttätigen Teil der Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen. Adeline Caron hat für den Chor individuelle fantasievolle Kostüme geschaffen, mit viel Pelz und Geweihen für die Männer und bunten folkloristischen Kleidern über warmen Hosen und Stiefeln für die Frauen. Nur Senta trägt einen Blazer, darunter eine Business-Bluse zur Hose im Marine-Stil.

Die Konfrontation der Norweger mit dem Geisterchor anlässlich des Fests, bei dem acht in schwarze Lederjacken gekleidete Statisten von den Norwegern in eine Schlägerei verwickelt werden, zeigt, dass die Dorfbewohner Angst vor den Eindringlingen – vielleicht auch vor sozialen Veränderungen? haben.

Regisseur Benjamin Lazar und seine Bühnenbildnerin Adeline Caron nutzen die volle Breite des Staatenhauses, um die Schauplätze der Handlung nebeneinander anzuordnen.

Im Zentrum die Reling von Dalands Schiff, darunter wie im Zwischendeck das Gürzenich-Orchester, davor eine Fläche mit Tischen und Tonnen, auf denen man sitzt, rechts Sentas Zimmer, und links ein paar rote Container. Im Hintergrund ein heller Vorhang, es könnten Segel sein, die sich, wenn das Holländer-Motiv ertönt, rot färben. Es gibt keinen Vorhang, keine Umbaupausen. Die drei Aufzüge gehen nahtlos ineinander über.

Lazar fokussiert sich auf die Person der jungen Senta zwischen zwei Männern. Während sich in Wagners Partitur der Holländer und sein Schiff sich als Spuk erweisen und nach Sentas Freitod im Meer verschwinden, ist in dieser Inszenierung der Holländer ein Mann von Fleisch und Blut, der außerhalb der Gesellschaft steht.

Der Jäger Erik, der Mann, dem Senta vermutlich ursprünglich versprochen war, ist derjenige, der Senta ehrlich liebt. Er spricht sie auf ihre Leidenschaft für den Holländer an und behauptet, sie habe ihm, Erik, doch schon Treue versprochen. Als der Holländer das hört, will er Senta entsagen und sie vor dem Verderben retten. Senta singt: „Hier steh ich, treu dir bis zum Tod“, aber anstatt sich ins Meer zu stürzen um den Holländer zu erlösen, steckt sie die Puppe, die sie selbst darstellt, in Brand und geht fort in eine bessere Zukunft. Der Holländer und Erik bleiben resigniert zurück.

Durch den völligen Verzicht auf Mythen und Spuk, aber auch auf den Bezug zur Entstehungszeit, als man auf den Wind als Antrieb der Schiffe angewiesen war und Textilien in mühsamer Handarbeit herstellen musste, wird die Handlung in der Tat auf die Geschichte einer Frau zwischen zwei Männern und etwas Karnevalsspuk reduziert. Es wäre zu wenig, wenn nicht Wagners suggestive Musik und die großartigen Protagonisten wären.

Oper Köln/FLIEGENDE HOLLÄNDER/Lucas Singer, Joachim Goltz /Foto © Karl & Monika Forster

Die Titelrolle verkörpert der Bariton Joachim Goltz nicht als schwerer Held, sondern eher schlank und skrupelbehaftet. Man glaubt ihm, dass er unter dem Fluch, bis zum Ende aller Zeiten zum Leben verdammt zu sein, leidet, den er in seinem Auftrittsmonolog: „Die Frist ist um“ schildert. Seine Entsagung ist glaubhaft. Er ist ehrlich: „Die düstre Glut, die hier ich fühle brennen, sollt´ ich Unseliger sie Liebe nennen? Ach nein! Die Sehnsucht ist es nach dem Heil…“ Er macht eine Entwicklung durch und will Senta nicht ins Verderben stürzen, sondern freiwillig auf seine Erlösung verzichten.

Karl-Heinz Lehner ist ein überaus authentischer Daland. Liebender Vater, der für seine Tochter nur das Beste will, einen reichen Mann; erfahrener Kapitän und Seefahrer, dessen Autorität von seiner Mannschaft respektiert wird; geschäftstüchtiger Kaufmann, der sofort seinen Vorteil im Handel mit dem Holländer sieht. Das Duett Holländer-Daland: „Wie, hör ich recht, meine Tochter sein Weib …“ ist ein Highlight, weil hier zwei Vollblutdarsteller einander steigern.

Kristiane Kaiser als Senta, steht wegen der Rahmenhandlung fast immer auf der Bühne, ist also sehr gefordert. Ihr lyrisch-dramatischer Sopran mit absolut treffsicheren strahlenden Höhen prädestiniert sie für die Rolle der Senta.

Maximilian Schmidt war ein wundervoll lyrischer Erik, mit dem man aufrichtig Mitleid haben konnte. Er verkörperte die Stimme der Vernunft und versuchte vergebens, Senta dazu zu bringen, von ihrer unseligen Besessenheit vom Holländer abzulassen. Er erfüllte die undankbare Partie des verlassenen Liebhabers, der gegen seinen charismatischen Rivalen keine Chance hat, mit großer Leidenschaft. Eine faszinierende Charakterstudie von Sentas Amme Mary zeigte Kammersängerin Dalia Schaechter. Sie hatte Senta früher die Geschichte vom Holländer erzählt und fürchtete um Sentas Leben, weil ihr die Gefahr, die vom Holländer ausging, bewusst war. Eine ungewöhnlich intensive Darstellung! Angenehm wirkte Dmitry Ivanchey als Steuermann mit einem schönen lyrischen Tenor, der bei der Wache eingeschlafen ist, und der sich zu Recht Dalands Unmut gefallen lassen musste.

Zusammen mit dem brillanten Gürzenich-Orchester, das die Naturgewalten schilderte, und dem ausgezeichneten Chor, der das Seemannskolorit beisteuerte, war das Musikerlebnis exzellent, aber die Inszenierung blieb hinter den Erwartungen zurück, auch wenn die Ausstattung und die Kostüme sehr aufwändig sind. Vielleicht war es doch keine gute Idee, die Geschichte vom fliegenden Holländer zu entzaubern und in die Gegenwart zu verlegen.

 

  • Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Oper Köln / Stückeseite
  • Titelfoto: Oper Köln/FLIEGENDE HOLLÄNDER/Herrenchor der Oper Köln/Foto © Karl & Monika Forster

 

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Ein Gedanke zu „„Der fliegende Holländer“ als Sentas Erlösung in der Oper Köln

  1. Besser wäre Senta hätte Hybristophilie. Der Holländer will nicht das Ende der Haftstrafe abwarten, sondern mit Senta fliehen. Beide sterben bei der Flucht im Kugelhagel der Polizei. Das wäre jenes schaurig romantisches Ende, wie Wagner es sich vorgestellt hat.

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