
Der Tourneestart des West-Eastern-Divan-Orchestra mit Daniel Barenboim wurde dadurch getrübt, dass Martha Argerich kurzfristig erkrankt war. Als Einspringer konnte Igor Levit gewonnen werden. In der seit Wochen restlos ausverkauften Kölner Philharmonie riss das West-Eastern Divan Orchestra unter Daniel Barenboim das Publikum zu stehenden Ovationen hin.(Konzert vom 12. August 2023)
Wie kein anderer Dirigent hat sich Daniel Barenboim immer wieder für friedliche Lösungen im Nahost-Konflikt eingesetzt. Das Konzert sollte zwei Legenden des Konzertbetriebs, die Weltstars Martha Argerich (82) und Daniel Barenboim (80), mit dem West-Eastern Divan Orchestra zusammenbringen. Leider ist Martha Argerich erkrankt und Igor Levit sprang kurzfristig ein. Man hofft, dass Argerich am 19.8.2023 auf der Berliner Waldbühne wieder selbst auftreten kann.
Der 36-jährige Igor Levit war ein mehr als adäquater Ersatz für Martha Argerich. Er ist schon öfter für sie eingesprungen, aber zum ersten Mal mit Barenboim, und steht auf dem Zenit seiner Karriere, denn neben musikalischen Ehrungen wie dem Gilmore Artist Award wurden ihm für sein politisches Engagement 2019 der 5. Internationale Beethovenpreis und im Januar 2020 das Bundesverdienstkreuz verliehen. Seine Diskografie ist beeindruckend. Im Juni 2022 wurde seinem Album „On DSCH“ mit Klaviermusik von Dimitri Schostakowitsch sowohl der Award „Recording of the Year“ als auch der „Instrumental Award“ des BBC Music Magazine zugesprochen.
Daniel Barenboim begann seine Weltkarriere als Pianist und debütierte 1950 in Buenos Aires. Nach einer Laufbahn als Klaviervirtuose profilierte er sich seit seinem Debut 1967 mit dem Philharmonia Orchestra London als Dirigent von Weltrang, der an allen großen Festspielhäusern und weltweit in Konzertsälen und Opernhäusern spektakuläre Erfolge feierte. Mit der Gründung des mit jungen israelischen und arabischen Musikerinnen und Musikern besetzten WEDO (West-Eastern Divan Orchestra) Orchester des West-Östlichen Divans) hat Daniel Barenboim das Anliegen der Völkerverständigung in Israel propagiert. Er will damit beweisen, dass das friedliche Zusammenleben von Juden und Palästinensern möglich ist. Barenboim hat 2001 bei einem Gastspiel mit der Staatskapelle Berlin, deren Chefdirigent er ist, in Tel Aviv das Tabu gebrochen, in Israel Wagner zu spielen, indem er als Zugabe einen Orchesterauszug aus „Tristan und Isolde“ als Zugabe dirigierte. Ein Aufschrei der Entrüstung war die Folge.
Das WEDO wurde 1999 von Daniel Barenboim, dem palästinensischen Literaturwissenschaftler Edward Said und dem deutschen Kulturmanager Bernd Kauffmann gegründet und setzt sich für friedliche Lösungen im Nahostkonflikt ein. Es gastiert weltweit und hat seinen Sitz in Sevilla.
Bei solchen Tourneekonzerten ist das Programm zweitrangig, denn es geht eindeutig um die Stars, die sich vorteilhaft präsentieren. Martha Argerich wollte das Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1. C-Dur op. 15 von Ludwig van Beethoven spielen. Mit diesem Konzert debütierte sie 1949 als Siebenjährige mit dem Orquesta Sinfónica de Radio El Mundo unter der Leitung von Alberto Castellanos und startete damit eine beispiellose Weltkarriere.

Das einfallsreiche und unterhaltsame erste Klavierkonzert von Beethoven eignet sich wunderbar, den Pianisten von seiner virtuosen Seite zu zeigen. Es war Beethovens öffentliches Debüt in Wien, bei dem er sich als 22-jähriger Komponist und Pianist unter der Leitung von Joseph Haydn am 29. März 1795 im Hofburgtheater präsentierte. Das Orchester hat eher begleitenden Funktion, ist aber mit Pauken und Trompeten für die Entstehungszeit groß besetzt und hat im langsamen Satz mit berückenden Soli der Holzbläser, vor allem der Klarinette, eine mehr als dienende Funktion. Levit hielt ständigen Blickkontakt mit dem Dirigenten und den Musikern und fügte sich perfekt in den Orchesterklang ein. In seiner Interpretation des C-Dur-Konzerts war er nicht der Star, sondern ein zusätzliches Orchestermitglied. Es war, als hätten er und Barenboim schon immer zusammen musiziert.
Als Zugabe interpretierte Levit das erste Intermezzo aus Johannes Brahms´ op. 117, ein lyrisches Stück, bei dem weder irre Intervallsprünge noch virtuose Läufe eine Rolle spielten, sondern die Innigkeit der Melodie.
Nach den Standing Ovations für Levit spielte das West-Eastern Divan Orchestra Brahms‘ heiter-pastorale zweite Sinfonie, mit der der dann schon 44-jährige Brahms endgültig aus dem Schatten Beethovens trat. Die Zweite von Brahms gilt als seine erfolgreichste und ist einfach nur eine pastorale Hommage an die milde Landschaft Kärntens, die ihn zu dieser lichten Sinfonie inspirierte und seinen Durchbruch als Sinfoniker bescherte. Thematisch, kompositorisch und in der Instrumentierung kann man diese Sinfonie in ihrer Komplexität am ehesten mit Beethovens Sinfonien, vor allem der dritten und der sechsten, vergleichen.
Das WEDO konnte in diesem Konzert unter Daniel Barenboim zeigen, wie die Zusammenarbeit verschiedener Musiker, ungeachtet ihrer Herkunft, funktioniert. Mit acht Kontrabässen und 16 Ersten Geigen erfüllte das Orchester die Philharmonie mit 2.000 Zuschauern mit sattem Klang. Aus dem Orchester hervortreten konnten vor allem Horn und Flöte im ersten Satz der Sinfonie, das Solo-Cello im zweiten Satz und Holzbläser im dritten. Dirigent und Orchester sind ein perfekt eingespieltes Team, das auf den leisesten Fingerzeig des Dirigenten pariert und anderen Spitzenorchestern in nichts nachsteht. Es fällt auf, dass die meisten Musiker und Musikerinnen sehr jung sind. Es sind überwiegend Absolventen der 2016 gegründeten Barenboim-Said-Akademie, einer Musikhochschule, in der 100 Stipendiaten aus Israel und aus dem Nahen Osten gemeinsam studieren.

Es war Daniel Barenboims 50. Auftritt in der Kölner Philharmonie. Er wirkte nach seiner Krankheit, die ihn daran hinderte, im Sommer Wagners „Ring des Nibelungen“ in der Berliner Staatsoper, deren Generalmusikdirektor er bis Januar 2023 war, zu dirigieren, noch etwas verhalten. Er dirigierte stehend und selbstverständlich ohne Partitur.
Barenboim arbeitete die musikalische Struktur des Beethoven-Konzerts und der vier Sätze der Brahms-Sinfonie akribisch heraus, was dazu führte, dass er die Tempi sehr gemessen nahm. Das Adagio des zweiten Satzes der Brahms-Sinfonie, bei dem die Bläser ihre großen Auftritte hatten, muss langsam gespielt werden, er spielte es aber sehr langsam. So wahrte Barenboim die Proportionen, ohne in den anderen Sätzen zu schnell werden zu müssen, ein Pianisten-Trick, den schon Vladimir Horowitz formuliert hat. Bezüglich der Dynamik ist mir wohltuend aufgefallen, dass er im zartesten Piano spielen lässt und die lauten Passagen sparsam einsetzt, womit natürlich die dramatische Steigerung betont wird. Bei den Höhepunkten schien er über Alter und Gebrechen mit weiten Gesten zu triumphieren.
Ich bin froh, die Ausnahme-Künstler Barenboim und Levit erlebt und mit dem WEDO ein Spitzenorchester gesehen zu haben, die über musikalische Brillanz hinaus auch eine politische Botschaft vermitteln. Natürlich drängt sich der Gedanke auf, dass eine so perfekte Performance so verschiedener Menschen ohne einen charismatischen Dirigenten, dem sich alle unterordnen, nicht funktioniert. Es müssen allerdings auch Vorurteile und Ressentiments überwunden werden, um sich auf eine Arbeit in einem solchen Klangkörper einzulassen.
Die Tournee des WEDO dauert noch bis zum 27. August 2023 und endet in Berlin.
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Titelfoto: West-Eastern Divan Orchestra/D. Barenboim, I. Levit/Köln/12.8.2023/ Foto @ Manuel Vaca