Theater Münster: „ELEKTRA“ – Wenn die Zerstörung von innen kommt

Theater Münster/ELEKTRA/Theater Münster/ELEKTRA/Rachel Nicholls, Margarita Vilsone, Hasti Molavian/Foto © Martina Pipprich

Bevor die Oper beginnt und während sich noch die Besucherreihen im Theater füllen, läuft eine aufgeregt wirkende Elektra über die Bühne und sieht sich nach allen Seiten um. Sie beobachtet die Menschen und die Umgebung um sich herum. Kindlich-verspielt wirkt sie, aber auch rätselhaft wissend. Die Kulisse für diesen stummen Auftritt ist das „Haus der Kunst“, Ende der 1930-er Jahre von den Nationalsozialisten erbaut. Und dieses Gebäude und seine Geschichte und historische Bedeutung bilden in der weiteren Handlung den Bühnen- und Themenrahmen dieser Münsteraner Inszenierung von Paul-Georg Dittrich. Und es kommt vieles auf das Publikum in dieser knapp 110 Minuten dauernden Oper zu. Die Bilderflut, die vielfältigen Eindrücke, die verschiedenen Spielebenen der Protagonisten und die vielen Assoziationen, die Dittrich in seine Inszenierung eingearbeitet hat, sind fast nicht immer in ihrer Gleichzeitigkeit zu erfassen. Und dennoch verdichtet sich zum Ende hin immer mehr eine rote Linie, die der Regisseur zeichnet und der insbesondere „seine“ Elektra folgt. Gedanken die zu verbrecherischen Ideologien werden, Gedanken die Menschen obsessiv besetzen, wie es die Rachegelüste einer Elektra nach dem Mord an ihrem Vater Agamemnon tun, können Auslöser für Unmenschlichkeit und Zerstörung werden. Die Gedanken werden Ursache für Terror, Zerstörung und Leid. Die Gedankenträger selbst brauchen dann auch oft die tödliche Klinge nicht selbst zu führen. Das machen andere für sie. Münster zeigt eine ELEKTRA die das Publikum fordert – und ganz besonders auch seine Hauptdarstellerin. Ein Glücksfall für Münster: Rachel Nicholls – eine Sängerdarstellerin erster Güte, eingebettet in ein starkes sängerisches Ensemble und musikalisch getragen von GMD Golo Berg und dem Sinfonieorchester Münster. (Gesehene Vorstellung vom 22.12.2022 – Premiere: 18.12.2022)

 

 

Regisseur Paul-Georg Dittrich lässt Richard Strauss` 1909 in Dresden uraufgeführte Oper ELEKTRA im bildlichen Rahmen des Münchner „Haus der Kunst“ spielen. Das Bühnenbild, eine Drehbühne mit verschiedenen Einblicken auf zwei Ebenen (Bühne, Kostüme und Lichtdesign: Christoph Ernst /Video: Lukas Rehm) gibt immer wieder die Innenansicht auf die Räumlichkeiten der sich darin befindlichen Personen frei. Dittrich arbeitet insbesondere mit den Kostümen der verschiedenen DarstellerInnen. Diese auch im Wandel der Zeiten von der NS-Zeit bis hin zur Gegenwart. Von der einstigen „männlichen“ Lederhose bis hin zur Kluft der Hooligans und Neonazis. Nur eine Gruppe von Menschen bleibt in der Kostümierung immer gleich: Es sind dies die „Hofschranzen“, – in diesem Fall die Dienerinnen der Klytämnestra -, die immer die Nähe zu vermeintlich Mächtigen suchen. Die sich andienen um des eigenen Vorteils willen und das um jeden Preis. Dittrich lässt sie in einem Kakerlakenkostüm auftreten. Kakerlaken die sinnbildlichen Allesfresser, die kritiklosen Meister der Anpassung.

Theater Münster/ELEKTRA/Wioletta Hebrowska, Maria-Christina Tsiakourma, Rachel Nicholls, Hasti Molavian/© Martina Pipprich

Elektra selbst wechselt, wie die anderen Rollen ebenso, mehrfach ihre Kostüme. Aber auch, um mit diesem jeweiligen Kostüm zu beeinflussen und ihre Gesprächspartner nutzbar zu machen. Zunächst im luftigen Mädchenkleid um die Dienerinnen des Hofes milde zu stimmen, dann in einem NS-Kostüm als sie im Dialog mit Klytämnestra ist, um ihr aufzuzeigen, dass sie offenbar weiss wovon sie spricht und später in einem Kaiserin-Sissi-Abendkleid, um im Gespräch mit ihrer Schwester Chrysothemis dieser das Gefühl von zarter und mitfühlender Weiblichkeit zu vermitteln. Einzig zu dem Zweck sie zum gemeinsamen Mord an der Mutter und dem Geliebten zu überreden. Im Finale der Oper wechselt Elektra ein letztes Mal ihr Kostüm. Dann als NSU-Terroristin Zschäpe geniesst sie den fragwürdigen persönlichen Triumph der Rache.

Der Regisseur nimmt die Tragödie der Elektra zur Darstellung dessen, was Hass an Destruktivität und Leid auslösen kann und verknüpft dies mit den historischen Unsäglichkeiten, die ausgehend vom sogenannten Dritten Reich bis ins Heute und Jetzt einen Nährboden haben, den gewisse und gewissenlose Gedankenträger, gleich welcher Zeit, immer noch beackern.

Es tauchen immer wieder Bilder, Fotos, Masken von bekannten Menschen der jüngeren und jüngsten Zeitgeschichte auf. Alle verbunden mit Dittrichs Regiekonzept das Hass nie die Lösung, sondern eigentlich immer die Ursache für Leid und Unmenschlichkeit ist. Der Elektra-Stoff bietet dazu eine gedanklich sinnvolle Vorlage. Elektra wird am Hofe ihrer Mutter Klytämnestra wie eine Sklavin gehalten, fernab der eigentlichen Hofclique, die Klytämnestra und ihren Geliebten Ägisth dort schleimend umgibt. Elektra hasst ihre Mutter und Ägisth abgrundtief für den Mord an ihrem Vater Agamemnon und schwört blutige Rache für die beiden. Und diesem Wunsch nach Rache ordnet Elektra in der Inszenierung von Dittrich alles unter. Das am Ende die verhasste Klytämnestra in einem Angela Merkel-Outfit ihr Ende findet und ihr Mörder Orest als Neonazi gekleidet ist, geht dann gedanklich weit über die eigentliche Elektra-Tragödie hinaus.

Hass tötet. Hass zerstört. Hassgedanken finden immer Menschen, die diese Gedanken in Taten umsetzen werden. Zu jeder Zeit. An jedem Ort. Eine Inszenierung, die sehr lange nachhallt und beschäftigt.

Theater Münster/ELEKTRA/Johan Hyunbong Choi, Rachel Nicholls, Hasti Molavian, Helena Köhne © Martina Pipprich

Jede ELEKTRA-Vorstellung steht und fällt mit der Besetzung der Titelpartie. Münster hat, wie eingangs erwähnt, mit der englischen Sopranistin Rachel Nicholls einen Glückgriff getan. In jeder Hinsicht. Darstellerisch ist Frau Nicholls absolut überzeugend, völlig aufgehend in ihre Rolle und in das anspruchsvolle Regiekonzept. Dazu mit einer bemerkenswert klaren und absolut deutlichen Textverständlichkeit dieser äußerst komplexen Opernpartie. Gesanglich überragend, besonders in den Dialogszenen mit Klytämnestra, Orest und vor allem in denen mit Chrysothemis. Ihr hell klingender, dramatischer Sopran überstrahlte mühelos die Klangtürme der gewaltigen Partitur und sie wusste sich sogar zum Finale hin noch an dramatischer Ausdruckskraft zu steigern. Bravo für diese Leistung!

Als Chrysothemis ist in Münster die Sopranistin Margarita Vilsone zu erleben. Auch sie war durch die Regie sehr gefordert und musste mehrere Kostümwechsel vornehmen und damit jeweils auch eine andere Seite der Chrysothemis zeigen. Was ihr sehr gut gelang. Gesanglich dazu höchst überzeugend. Ihr verzweifelter Ausruf im Dialog mit Elektra „Nein, ich bin ein Weib und will ein Weiberschicksal. Viel lieber tot als leben und nicht leben“ ging absolut unter die Haut und mit ihrem glasklaren und fast elektrisierenden „Elektra, ich muss bei meinem Bruder stehn!“ hatte sie mich dann restlos begeistert. Eine tolle sängerische und darstellerische Leistung der am Theater Münster engagierten Sopranistin! Bravo!

Theater Münster/ELEKTRA/Margarita Vilsone, Rachel Nicholls, Helena Köhne, Ensemble © Martina Pipprich

Helena Köhne als Klytämnestra war in dieser Inszenierung fast immer zu sehen. Auch in den Szenen, wo sie nichts zu singen hat. Aber sie ist einer der Mittel- und Angelpunkte dieser düsteren Münsteraner Elektra-Neuinszenierung. Und auch für Frau Köhne gilt, dass sie die anspruchsvolle Partie mit all ihren dunklen und unheilschweren Facetten absolut glaubwürdig und bestechend darstellte. Dabei stimmlich in wahre Tiefen gehend und im fatalen Dialog mit Elektra der absolut adäquate Gegenpart. Diese Szene bleibt ganz besonders in Erinnerung.

Johan Hyunbong Choi verkörperte mit kräftigem Bariton einen entschlossenen Orest, der seine Schwester und seinen Vater rächen will. Stark seine Leistung im ersten Zusammentreffen mit seiner Schwester Elektra, die er erst im Verlauf als die erkennt, die sie ist. Als Ägisth war Aaron Cawley kurzfristig für den erkrankten Garrie Davislim eingesprungen und fügte sich ideal in die Inszenierung ein. Auch sämtliche weitere kleinere und kleinen Partien waren aus dem Ensemble – und teilweise auch aus dem Opernstudio des Theater Münsters, – hervorragend besetzt und rundeten zusammen mit dem Chor des Theater Münster die sängerische Gesamtleistung auf der Bühne bestens ab.

Golo Berg dirigierte einen packenden Strauss, klanggewaltig, dramatisch und mitreißend, aber auch zurückgenommen an den Stellen, wo sich insbesondere Elektra in träumerische Erinnerung an Agamemnon ergeht. Das Sinfonieorchester Münster folgte ihrem GMD beeindruckend durch die gewaltige Partitur. Große Anerkennung für alle!

Fazit: Ein Besuch der Münsteraner ELEKTRA sei nicht nur eingeschworenen Straussfans zu empfehlen. Die aktuelle und dabei stets zeitlose szenische Umsetzung des Opernstoffes ist anspruchsvoll und das Publikum durchaus fordernd, aber lohnenswert. Vorkenntnisse der Opernhandlung empfehlenswert. Kurzum: Eine aufwändige Produktion vom gesamten Ensemble des Theaters Münster beeindruckend umgesetzt.

 

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Ein Gedanke zu „Theater Münster: „ELEKTRA“ – Wenn die Zerstörung von innen kommt

  1. Großartig geschrieben! Druckreif und intelligent formuliert!
    Eine Opernkritik die sich von den allermeisten anderen abhebt.

    Großes Kompliment an Sie Herr Obens und Ihr Opernmagazin.
    Frohe Weihnachten und alles Gute für das neue Jahr

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