Rolf Liebermanns Oper „Leonore 40/45“, die 1952 in Basel erfolgreich uraufgeführt wurde und dann in Oldenburg und an der Mailänder Scala mit Pauken und Trompeten durchgefallen ist, kam in Bonn sehr gut an. Sie wird im Rahmen des Projekts „Fokus 33“ mit „Arabella“ von Richard Strauss kontrastiert. Der Bonner Operndirektor Andreas K. W. Meyer, Auftraggeber der Welt-Uraufführung von neuen Stücken wie „Marx in London“ von Jonathan Dove und Ausgrabungen wie „Der Traum, ein Leben“ von Braunfels oder „Oberst Chabert“ von Resnicek hatte ursprünglich vorgesehen, „Leonore 40/45“ in Beethovens Jubeljahr 2020 mit Beethovens „Fidelio“ zu kontrastieren. Dann wäre mehr internationales Publikum in Bonn gewesen, und man hätte die unübersehbaren Parallelen zu „Fidelio“ erkannt. Yvette wird am Ende der Oper von dem rettenden Engel Monsieur Emilie „ma petite Leonore“ genannt. (Gesehene Vorstellungen: Premiere am 10.10. 2021 und Derniere am 22.10.2021)
Eine Kurzfassung des ersten Eindrucks hat DAS OPERNMAGAZIN bereits veröffentlicht: LINK.
Die Inszenierung von Jürgen R. Weber, Corona-tauglich mit Orchester und Chor hinter der Bühne verteilt, lag fast ein Jahr lang „auf Abruf“, bevor man sich entschied, sie im Oktober 2021 viermal zu spielen.
Der französische Instrumentenbauer Lejeune, verkörpert vom verschmitzten Martin Tzonev, bringt es auf den Punkt: französische Holzblasinstrumente sind so hochwertig, dass man damit gute Geschäfte mit den musikbegeisterten Deutschen und Österreichern machen kann. Die gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen und die Furcht vor dem Kommunismus haben im Endeffekt die deutsch-französische Freundschaft begründet, die mit der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags am 22.Januar 1963 besiegelt wurde.
Die autobiografische Geschichte des als Wehrmachtssoldat in Paris stationierten Librettisten Strobel und seiner Liebe zur Französin Yvette steht exemplarisch für viele deutsche Soldaten, die nach der Befreiung der Stadt in Lagern interniert waren, und von Französinnen, die sich in deutsche Besatzungssoldaten verliebt hatten und nach dem Abzug der deutschen Truppen von ihren Landsleuten ausgegrenzt und stigmatisiert wurden. Der historische Hintergrund wird durch die im Barockrahmen eingespielten Filmsequenzen eindrucksvoll dargestellt.
Der Gedanke des Schweizers Rolf Liebermann von der Unsinnigkeit von Kriegen und von der Völkerverständigung wird durch Strobels Libretto greifbar gemacht. Durch die Regie von Jürgen R. Weber und die Illustrierung mit Original-Filmdokumenten wird die Geschichte so vertieft, dass der Zuschauer Anteil nimmt und sich mit Yvette identifiziert, zumal Barbara Senator mit ihrem ausdrucksstarken lyrisch-dramatischen Sopran Ihre Gefühle – vor allem den heiligen Zorn über Hass und Feindschaft zwischen den Nationen – anrührend zum Ausdruck bringt. Santiago Sanchez, der den Alfred darstellt, überzeugt durch jugendlichen Schmelz. Germaine, Yvettes Mutter, wird von Susanne Blattert, Alberts Vater Hermann von Pavel Kudinov verkörpert. Sie harmonieren mit Barbara Senator und Santiago Sanchez sehr gut im Quartett im Prolog, das dem aus Beethovens Fidelio „Mir ist so wunderbar“ aus dem 1. Akt nachempfunden ist.
Star der Inszenierung ist der Heldenbariton Joachim Goltz als Monsieur Emile und „rettender Engel“ mit richtigen schwarzen Flügeln, die er beeindruckend zu bewegen weiß. Sein kraftvoller und schöner Bariton trägt schon im Prolog – dem Prolog aus „Pagliacci“ sehr ähnlich – zur Spannung bei. Der naive Glaube Yvettes an den Schutzengel, einen echten „Deus ex machina“, der auch in die Handlung eingreift, unterstreicht das märchenhafte der Handlung.
Die von Daniel Johannes Mayr und dem Beethoven-Orchester gespielte Musik Liebermanns ist über weite Strecken spätromantisch, greift aber auch Elemente im Stil Kurt Weills auf. Vor allem der pompöse Schlusschor könnte von Kurt Weill sein. Der von Marco Medved einstudierte Chor war wie das Orchester hinter der Bühne platziert. Die Zwölftonreihe, die am Anfang gespielt wird, ist so aufgestellt, dass sie fast schon tonal wirkt. Trotzdem muss man davon ausgehen, dass die Opernbesucher der fünfziger Jahre nach den Aktionen der Nationalsozialisten gegen „entartete Musik“ einen eher konservativen Musikgeschmack hatten. Da hat sich in den letzten 70 Jahren doch einiges getan! Der Trailer liefert einen Eindruck.
Für Regisseur Jürgen R. Weber, der in Bonn schon unter anderem die Welturaufführung von Jonathan Doves „Marx in London“ am 9. Dezember 2018 und 2020 eine Corona-taugliche Fassung von Mauricio Kagels „Staatstheater“ inszeniert hat, ist die Umsetzung von „Leonore 40/45“ eine Auseinandersetzung mit seinem Vater, der in Frankreich als Soldat eingesetzt war und der kaum über die Kriegszeit gesprochen hat. Dass Weber vom Film kommend denkt und im Libretto fehlende Konflikte ergänzt, hat er bereits in „Staatstheater“ gezeigt. Er fügt nach dem Duett „Wir wollen nicht an Trennung denken“ im 2. Bild (1943) eine Szene ein, in der der deutsche Soldat Albert eine als „Marianne“ kostümierte Statistin ersticht, die ihn vorher mit der Spitze einer Flagge bedroht hat. So und durch drastische Video-Einblendungen, zum Beispiel von einer kahl geschorenen Frau mit Hakenkreuz auf der Stirn, ergänzt er die die fehlende Dramatik der Vorlage. Weber und sein Bühnen- und Kostümbildner Hank Irwin Kittel haben mit den Video-Einblendungen, die praktisch ständig im Bilderrahmen mitlaufen, eine suggestive Form gefunden, die Geschichte lebendig zu machen. Ob „Circus Hitler“ den historischen Vorgängen gerecht wird, mag allerdings bezweifelt werden. So kann man sagen, dass „Leonore 40/45“ einfach zu früh kam und dass die Zeit noch nicht reif dafür war. Andererseits hat sich das angesprochene Problem seit der Besiegelung der deutsch-französischen Freundschaft 1963 erledigt.
Die farbenprächtige detailreiche an einen Spielfilm erinnernde Umsetzung mit den Videosequenzen und fantastischen Animationen hatte einen erheblichen Anteil am Erfolg der Premiere. Die Zuschauer fühlten sich jedenfalls im besten Sinne gut unterhalten. Einige sahen sich das Stück sogar mehrmals an, und es war sehr hilfreich, das Libretto im Programmheft abgedruckt zu finden. Es bleibt der Eindruck einer Art Kabarett mit Spielszenen aus der Geschichte, durch das Monsieur Emile als rettender Engel wie ein Moderator führt. Mit der Dramatik des Beethovenschen „Fidelio“, die in dem Ausruf: „Töt´ erst sein Weib“ gipfelt, hat dieses Werk jedenfalls nichts zu tun, denn es fehlt gänzlich ein Konflikt zwischen den handelnden Personen.
Vor der Premiere hielt Prof. Thomas Bauer, Islamwissenschaftler an der Universität Münster, einen sehr interessanten Vortrag zum „Fokus 33“ der Oper Bonn. Er warf die Frage auf, warum einige Werke immer wieder gespielt werden, andere dagegen nicht. Ausgehend von der Vieldeutigkeit der Realität postulierte er, Kunst müsse mehrdeutig sein. Die Ausgrenzung aller jüdischen Komponisten und Librettisten und der „entarteten“ Zwölftonmusik durch die Nazis gibt es in der Form nicht mehr. Die Verfassung schützt das Recht der Kunstfreiheit, und man alimentiert Opernhäuser so, dass auch unbekannte und zeitgenössische Opern eine Chance haben.
Wenn man mit Oper Geld verdienen will stellt ein unbekanntes Werk jedoch ein erhebliches Risiko dar. Die Resonanz der Medien auf „Leonore 40/45“ war einhellig sehr positiv, aber die Auslastung der Oper Bonn war enttäuschend. Weder die Abonnements der Theatergemeinde noch die der Bonner Oper waren angelaufen, man musste also bewusst Karten kaufen. Ein unbekanntes Stück nimmt man im Rahmen eines Abonnements mit, aber extra kaufen?
Weitere Stücke im Rahmen von Focus 33: „Ein Feldlager in Schlesien“ von Giacomo Meyerbeer: https://www.theater-bonn.de/de/programm/ein-feldlager-in-schlesien/172778 und die Operette „Li-Tai-Pe“ von Clemens von Franckenstein: https://www.theater-bonn.de/de/programm/li-tai-pe/174167.
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Oper Bonn / Stückeseite
- Titelfoto: Oper Bonn/LEONORE 40-45/Barbara Senator(Yvette), Joachim Goltz(Monsieur Emile), Santiago Sanchez(Albert), Ensemble/ Foto © Thilo Beu