Im Staatstheater Darmstadt erlebt man eine perfekt musizierte, aber völlig überraschend und viel zu vielfältig bebilderte Version des „Otello“. Chor, Extrachor und Kinderchor, das Staatsorchester Darmstadt unter Daniel Cohen und Megan Marie Hart als Desdemona, Gaston Rivero als Otello und Aris Argiris zeigen in einer großartigen Ensembleleistung die Psychostudie eines vom Kriegshandwerk traumatisierten Helden, der vor den Augen des Publikums seine unschuldige Frau beleidigt, schlägt, in den Schmutz stößt und am Ende tötet. (Rezension der Premiere v. 25.02.2024)
Verdis „Otello“ hat alle Merkmale eines Meisterwerks. Am 5. Februar 1887 mit großem Erfolg in der Mailänder Scala uraufgeführt gehört seine vorletzte Oper zum Kernrepertoire großer Häuser. Librettist Arrigo Boito, selbst Opernkomponist, hat mit sicherem Gespür für gutes Musiktheater Shakespeares fünfaktiges Drama um den „Mohr von Venedig“ in eine vieraktige Oper gefasst. Die Vorgeschichte – Otellos Werbung um Desdemona wird zunächst von ihrem Vater aus rassistischen Gründen abgelehnt – konzentriert sich im Duett im ersten Akt der Oper. Sie liebt ihn, den Fremden und Außenseiter, wegen der Leiden, die er ertragen musste, er liebt sie als Reaktion auf ihre Hingabe.
Aber Otello ist zu echter Liebe und Loyalität gar nicht fähig. Er ist eine hocheffizienter Militärführer, der im Auftrag der Venezianer die Insel Zypern besetzt hat. Nach einem lebensbedrohenden Sturm, in Mauerschau kommentiert vom Chor, kommt er siegreich an Land und trifft seine Frau Desdemona, die sich in Sehnsucht nach ihm verzehrt hat. Sein erster Auftritt zeigt den triumphierenden gefeierten Feldherrn. Desdemona liebt ihn bedingungslos und erträgt alle Kränkungen, die er ihr zumutet.
Die Handlung wird gesteuert durch den skrupellosen Fähnrich Jago, dessen Frau Emilia Desdemonas Zofe ist. Empört, dass Otello ihm, dem langjährigen Haudegen, den jungen Cassio bei der Beförderung zum Hauptmann vorgezogen hat, sinnt er auf Rache. Zunächst macht er Cassio betrunken, so dass der Montano im Streit verletzt und degradiert wird, aber dann gibt ihm ein Taschentuch, das Desdemona verloren hat, die Steilvorlage, Otello auf Cassio eifersüchtig zu machen. Jago ist ein zutiefst gottloser amoralischer Mensch, der alles seiner persönlichen Rachsucht unterordnet und der Otello vernichten will.
Er behauptet Otello gegenüber, Cassio habe im Schlaf über Desdemona gesprochen und er sei in sie verliebt. Daneben stiftet er Desdemona an, sie solle bei Otello um Cassios Rehabilitation bitten und dadurch Otellos Verdacht befeuern, sie habe eine Liebesaffäre mit Cassio. Otello steigert sich immer weiter in einen Eifersuchtswahn hinein und bezichtigt Desdemona, eine Hure zu sein. Jago stiftet Otello an, Desdemona in ihrem Bett zu erwürgen. Das Rache-Duett Otello-Jago am Ende des zweiten Akts besiegelt Desdemonas Schicksal.
Sie, die Reine, unschuldige liebende Frau geht zu Bett und wird von Otello im Schlaf umgebracht. Mit letzter Kraft sagt sie noch, sie habe sich selbst getötet, aber Emilia spricht die Wahrheit aus. Otello richtet sich selbst, indem er sich ersticht. So der ursprüngliche Plot. Es stellt sich, nicht nur was rassistische Komponenten angeht, die Frage, wie man eine solche Handlung heute noch zeigen kann.
Regisseur Paul-Georg Dittrich, findet überraschende Lösungen. Er erzählt das Stück als Computerspiel „Otello, Total Empire“, in seiner Struktur angelehnt an das Strategiespiel „Empire: Total War“, in dem der Feldherr Otello, seine Frau Desdemona, ihre Zofe Emilia, der Intrigant Jago, der junge Hauptmann Cassio, der Edelmann Rodrigo, der Gouverneur von Zypern, Montano und der venezianische Gesandte Lodovico Spielfiguren sind. Sie treten auf die Bühne und agieren. So wird zwischen den Akten ein Avatar des Gesandten venezianischen Ludovico auf einem nach Zypern eilenden Schiff eingeblendet, dem Mario Klein seinen sonoren Bass leiht, der ziemlich lange anspruchsvolle philosophische Texte zitiert, zum Beispiel diesen von Goethe: “Du mußt steigen oder sinken/ Du musst herrschen und gewinnen/ oder dienen und verlieren / leiden oder triumphieren / Amboß oder Hammer sein!“ – die Grundregel toxischer Männlichkeit. Hier kommen die ersten Rufe: „Musik!“ aus dem Publikum. Die Texte halten die Handlung zu lange auf.
Das Bühnenbild von Anika Marquardt und Anna Rudolph wird ergänzt durch Videosequenzen von Lukas Rehm, bei denen jede Person einen animierten Avatar hat. Bilder mit sichtbaren Pixeln wie aus einem Computerspiel zeigen, wie der Eroberer eine Insel besetzt, wie seine Soldaten die einheimische Bevölkerung unterwerfen und wie die Besatzung gegen Widerstand verteidigt wird in Kriegsszenen, bei denen hunderte Soldaten sich gegenseitig bekämpfen, aber keinerlei Blut zu sehen ist – empathiefreie Gemetzel.
Nach dem ersten Akt gibt es eine Computerabstimmung per Smartphone: das Publikum wird aufgefordert, abzustimmen, ob man mit der besetzten Insel „ein Exempel statuieren“ oder „diplomatische Beziehungen aufnehmen“ solle. Nach einigem Murren entschieden sich 71% des Publikums für diplomatische Beziehungen. Die weiteren Abstimmungen habe ich ignoriert, denn sie lenkten von der Musik und von der Handlung ab.
Meine Söhne, einer Jahrgang 1983, wie der Regisseur, haben Anfang der 2000-er nächtelang solche Spiele in Netzwerkparties mit Freunden gespielt. Sie sind eine Einübung in machohaftes Erobererverhalten, bei dem ohne Rücksicht auf Verluste die Erweiterung der eigenen Macht mit Hilfe von personeller Überzahl und besseren Waffen, die man erwerben kann, als Ziel im Vordergrund steht. Frauen kommen nur am Rande vor als „Prinzessin in Not“, die es zu retten gilt. In dieser Welt gehen die Frauen als Leibeigene aus der Hand des Vaters oder Bruders in die des (Ehe-)Mannes über, der mit anderen Männern durch Dominanz und Durchsetzungswillen um die begehrten Prestigepositionen konkurriert. Die „Untreue“ der Gattin wird dabei als persönliche Kränkung empfunden.
Der Opernchor ist als Teil der Rahmenhandlung die Belegschaft eines Großraumbüros, in dem sich die Angestellten mit Tippen, telefonieren, lochen, stempeln, heften und schreddern durch den öden Alltag quält. Da kommt eine junge Frau mit einem Strategiespiel, dem die Mitarbeitenden alle verfallen. Wenn sie das Notebook öffnet erscheint das Spiel auf der Leinwand im Hintergrund. Gebannt hängen sie am Bildschirm und spielen „Otello, Total Empire“, ein strategisches Computerspiel, bei dem Otello den Eroberer Zyperns verkörpert. Otello, Jago und Desdemona sind Figuren in dem Spiel, das zeigt sich auch an den stilisierten Kostümen von Anika Marquardt und Anna Rudolph und an den unnatürlich gelben Haaren. Im dritten Akt taumeln die Chormitglieder als spielsüchtige Zombies mit ihren Notebooks über die Bühne, am Schluss treten sie als Demonstrierende auf, die für und gegen verschiedene Ziele eintreten.
Die Computerspielelemente treten im dritten Akt zurück gegenüber der Zeichnung der psychischen Krankheit des Otello. Rechts auf der Bühne steht eine Art Zwinger, auf dem ständig Spruchbänder laufen, im Hintergrund geht ein Segelschiff in Flammen auf. Pathologische Eifersucht und unbeherrschte Handgreiflichkeit gegenüber Desdemona, die alles erträgt, Stacheldraht, an dem er seine Hände blutig schlägt- vor diesem Kerl graut es einem. Vor dem vierten Akt kommt ein weiteres spieltypisches Angebot: Rollentausch. Desdemona wird durch Emilia ersetzt, die auf dem Bett liegt und von Otello im Dunkel der Nacht erwürgt wird. Ein Spruchband mit der Zahl der Femizide läuft: „weltweit alle elf Minuten“. Desdemona beobachtet alles aus dem Hintergrund. Ein kleines Problem ergibt sich aus der Continuity, denn Emilia hat noch von Otellos Mord an Desdemona zu berichten.
Ensemblemitglied Megan Marie Hart, kurz vorher noch als Chrysothemis in „Elektra“ zu erleben, ist eine wundervoll lyrische Desdemona. Mit ihrem „Lied von der Weide“ und dem „Ave Maria“ zeichnet sie das Bild des sanften gläubigen Opfers, der Frau, die ihr Leben für ihren Mann hingibt, obwohl sie keine Schuld trifft.
Dem Tenor Gaston Rivero in seinem strahlenden Triumph glaubt man den siegreichen Feldherrn, der eine solche Frau für sich gewinnen konnte. Das Liebesduett: „Giá nella notte densa“ am Ende des ersten Akts zeigt uns ein Traumpaar in großer Harmonie mit berückenden Lyrismen. Aber Otello lässt sich in seiner Unsicherheit wegen seiner Herkunft – er ist in Venedig ein Fremder – von Jago in eine Eifersuchtspsychose treiben. Sein pathologisches Misstrauen, das im Kriegshandwerk durchaus von Vorteil sein kann, lässt ihn leichtes Opfer von Jagos Andeutungen werden. Rivero stellt die Zerstörung seiner Persönlichkeit mit fahlen Stimmfarben und eruptiven Ausbrüchen angsterregend dar. Der Haufen geschreddertes Papier, auf dem der dritte und vierte Akt spielen, kann als Metapher für seinen verwirrten Geist gedeutet werden, ebenso der Stacheldraht, an dem er seine Hände blutig kratzt.
Die Figur des Jago, ein durch und durch amoralischer Mensch, der an nichts glaubt, nur an seine Rache, ist Boitos und Verdis Version von Goethes Mephisto. „Ich glaube daran, dass der Mensch ein Spielball des Bösen ist – vom Keim in der Wiege bis zum Wurm im Grabe,“ legt Boito Jago in den Mund. Mit dem Charme des Bösen und das Publikum als Komplizen ansprechend steuert Aris Argiris als Manipulator die Handlung im ersten und zweiten Akt. Der Jago scheint ihm auf den Leib geschrieben, denn mit verschwörerischem Piano raunt er dem Publikum seine Pläne zu und manipuliert Cassio und Desdemona. Sein Trinklied – ein Hoch auf Genuss und Rausch! Sein „Credo“ eine Blasphemie, bei dem sein Nihilismus greifbar wird. Es ist Argiris´ Europa-Debut in dieser Rolle, und sein ungeheuer voluminöser Heldenbariton bleibt dieser Figur im Ausdruck vom leisesten Pianissimo bis zum Fortissimo nichts schuldig. Dazu kommt eine enorme Bühnenpräsenz. Es passt zu seinem Charakter, dass er mit seiner Frau Emilia, der jungen Mezzosopranistin Solgerd Isalv, sehr ruppig umgeht. Sie hat keine Wahl – sie muss seine Komplizin sein.
Die übrigen Rollen – Cassio: der junge Tenor Ricardo Garcia, Roderigo: Marco Mondragón, Montano: Zaza Gagua und Lodovico: Mario Kein – sind aus dem Ensemble typgerecht besetzt. Der auffallend gute Kinderchor unter der Leitung von Rodrigo Cob Peňa, der Desdemonas Güte unterstreicht, und der von Alice Meregaglia perfekt einstudierte Chor und Extrachor, der sehr authentisch die Spielsüchtigen verkörperte und dabei die komplexen Chorsätze sang, zeigten mit dem Staatsorchester Darmstadt unter der Leitung des GMD Daniel Cohen eine überzeugende musikdramatische Ensembleleistung mit überbordenden Regieeinfällen, die allerdings von der Musik und der Handlung der Oper eher ablenkten.
Besucher, die vielleicht auch selbst mal Strategiespiele wie „Empire Total War“ gespielt haben und für schnelle Prozessoren und leistungsfähige Graphikkarten ein Vermögen ausgegeben haben, hatten ihre Freude an der Inszenierung von Paul-Georg Dittrich. Ich habe mich auf die Bebilderung der eigentlichen Handlung konzentriert und an den weiteren Abstimmungen per Smartphone nicht teilgenommen, weil sie von der Musik ablenkten. Auch die im vierten Akt laufenden Spruchbänder und die zahlreichen Nebenbilder waren zu viel. Aber die Information über die Häufigkeit von Femiziden, die eingeblendet wurde, zeigt mir, dass Dittrich die toxische Männlichkeit thematisieren wollte, die weltweit immer noch nicht überwunden ist.
Für die großartigen Leistungen der Sängerinnen und Sänger, des Chors und des Orchesters gab es lebhaften Beifall und stehende Ovationen, aber das Regieteam musste am Schluss ernsthafte Buh-Rufe einstecken. Für mich war es eine intelligente Auseinandersetzung mit einem zeitlosen Thema: Dominanz und Unterwerfung. „Otello Total War“ hält Anhängern von Strategiespielen den Spiegel vor. Dittrich hat jedoch mit zu viel Beiwerk von der Musik und der Handlung der Oper abgelenkt.
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Staatstheater Darmstadt / Stückeseite
- Titelfoto: Staatstheater Darmstadt/OTELLO/Megan Marie Hart, Gaston Rivero/ Foto: Martin Sigmund