„Ausweitung des Ringgebiets“ steht an der Fassade des Braunschweiger Staatstheaters. Man erarbeitet Wagners Werk in Kooperation aller drei Sparten: Oper, Schauspiel und Tanz. Die junge Regisseurin Isabel Ostermann führt Regie und wendet Methoden des Schauspiels an, was dazu führt, dass die Schauspielerin Nina Wolf als Brünhilde und die Schauspieler Luca Füchtenkordt als Hagen und Heiner Take als Hunding die Handlung mit flammenden Monologen kommentieren. (Rezension der Premiere v. 08.10.2022)
Krise im Hause Wotan! Er hat in den Vertragsverhandlungen über den Bau seines neuen prachtvollen Familienwohnsitzes den Bauunternehmern, den beiden Riesen Fafner und Fasolt, seine Schwägerin Freia als Honorar versprochen. Jetzt ist die Burg fertig, und die beiden verlangen ihren Lohn. Sie wollen Freia als Leibeigene heimführen und freuen sich schon, endlich eine junge Göttin zu besitzen. Fricka, Wotans Gattin, Schwester der verkauften Braut, ist empört. Man habe sie bei den Verhandlungen nicht teilnehmen lassen, sonst wäre es zu so einer skandalösen Übereinkunft nie gekommen. Die Ehekrise, die sich über diesen Sachverhalt anbahnt, ist richtig großes Theater.
Die junge Freia ist in heller Panik, denn sie kennt die Herren nicht. Wotan ist in einem Zwiespalt: er hat nicht das Geld die Bauunternehmer zu bezahlen, möchte Freia aber nicht preisgeben, weil sie die Äpfel der ewigen Jugend pflegt und verteilt, die den Göttern ihre Unsterblichkeit sichern. Fafner und Fasolt bestehen auf Vertragserfüllung und nehmen die sich wehrende verzweifelte Freia mit. Viel zu spät kommt Wotans Rechtsbeistand Loge, ein amoralischer Intellektueller, dazu und distanziert sich von den fatalen Folgen, die der von ihm und Wotan mit Fafner und Fasolt ausgehandelte Vertrag hat. Er habe lediglich das Bemühen versprochen, nicht den Erfolg, aber es werde ihm schon etwas einfallen. Loge berichtet Wotan von dem Unrecht, das den drei Rheintöchtern widerfahren sei. Alberich habe ihnen das Rheingold geraubt. Sie riefen Wotan um Hilfe an. Wotan ist als Feudalherr gleichzeitig Regent und oberster Richter, es ist also seine Aufgabe, diesen Raub zu ahnden. Zusammen mit Loge bricht er nach Nibelheim auf, um Alberich zur Rechenschaft zu ziehen. Der hat von seinem Bruder Mime aus dem Rheingold eine Tarnkappe schmieden lassen, die dem Träger jegliche Gestalt gibt, und einen Ring, der dem, der ihn trägt, die Macht über die Welt verleiht. „Den Ring muss ich haben“, so Wotan. Mit Loges Hilfe überlistet und überwältigt Wotan Alberich und führt ihn ab.
Er nötigt Alberich, das gesamte Rheingold einschließlich Ring und Tarnkappe abzuliefern. Widerwillig gibt dieser auch den magischen Ring ab, verflucht aber jeden, der ihn trägt. Wotan, statt das Raubgut den Rheintöchtern zu erstatten, benutzt es, um bei Fafner und Fasolt Freia auszulösen. Der sensible Fasolt hat sich in Freia verliebt und zögert, aber der brutalere Fafner setzt sich durch. Freia wird mit dem Rheingold aufgewogen, eine seltsam peinliche Situation, weil man Freia bis auf die Unterwäsche entkleidet, um weniger zahlen zu müssen. Die lyrische Sopranistin Ekaterina Kudryavtseva berichtet, sie habe sich richtig unwohl in dieser Rolle gefühlt. Ganz rührend: Fasolt bedeckt die Entblößte mit seiner Jacke.
Zunächst will Wotan den Ring um jeden Preis behalten, aber Erda, die Urmutter, warnt ihn und beschwört ihn eindringlich, vom Ring zu lassen. Wotan übergibt den Riesen den Ring, und der Fluch wird Realität: Im Streit um den Ring erschlägt Fafner seinen Bruder Fasolt. Freia, die sich in Fasolt verliebt hatte, kniet weinend neben seiner Leiche. Für Wotan, Fricka, Froh und Donner ist jedoch die Welt wieder in Ordnung. Frohgemut brechen sie nach Walhall, ihrem neuen Wohnsitz auf. Die Klagen der beraubten Rheintöchter verhallen. Man ist Meister in der Verdrängung unangenehmer Wahrheiten. Loge distanziert sich von dieser Familie und zieht weiter.
Im ersten Akt erzählt Wagner die Vorgeschichte: Mit dem tiefen „Es“ der Fagotte und Streicher wird der Naturzustand der Welt beschrieben, aus dem sich die Wellen und Wogen des Rheins entwickeln, in dem die Rheintöchter, einfache verspielte Naturkinder, herumtollen und sich nach Lust und Laune mit Männern, die ihnen gefallen, paaren. Alberich, vielleicht nicht der charmanteste aller Freier, kann bei keiner der drei landen. Sie sind frei und an keinerlei Weisungen gebunden und prahlen vor Alberich, nur derjenige, der der Liebe entsage, könne aus dem Rheingold den Ring schmieden, der ihm die Weltherrschaft garantiere. Der frustrierte Alberich ist elektrisiert: er schwört der Liebe ab und raubt den Rheintöchtern ihren Schatz.
Richard Wagner hat mit dem „Ring des Nibelungen“ aus Versatzstücken der Nibelungensage einerseits ein deutsches Heldenepos, nämlich die Siegfriedsage, vertont, aber gleichzeitig die Absetzung der Feudalfürsten zu Gunsten des schaffenden und arbeitenden Bürgertums dargestellt. Wotan steht für die Landesfürsten, die Wagner, der Royalist war, verhasst waren, Fafner und Fasolt verkörpern das klassische Handwerk, und Alberich steht für die frühkapitalistischen Ausbeuter, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts die industrielle Revolution voranbrachten.
Der „Ring“ traf beim deutschen Bürgertum den Nerv der Zeit: Dekadenz und Verworfenheit der Fürsten war greifbar, und man machte die Partikularinteressen der Fürsten dafür verantwortlich, dass es erst ab 1871 ein Zweites Deutsches Reich gab. Wagners Opern lieferten einen maßgeblichen Beitrag zur deutschen Identität, denn er vertonte mittelhochdeutsche Mythen und Sagen, in denen man sich selbst wieder erkannte.
Der mythische Charakter fehlt in der Inszenierung von Isabel Ostermann, im Bühnenbild von Stephan von Wedel und bei den Kostümen von Julia Burkhardt völlig. Alles spielt in stilisierten modernen Verhandlungsräumen, Wotan sitzt an einem Schreibtisch, der eines Konzernchefs würdig wäre, die Kleidung ist Business- bis legere Alltagskleidung. Durch die gesprochenen Texte der Schauspieler Luca Füchtenkordt als Hagen, Heiner Take als Hunding und der Schauspielerin Nina Wolf als junge Brünhilde wird der Musikfluss unterbrochen und das gesagt, was der informierte Zuschauer ohnehin schon weiß: Wotan bricht einen Vertrag, und das kann Alberich sich nach Hundings Meinung nicht gefallen lassen.
Das bedeutet für Aris Argiris, den Darsteller des Wotan, eine schwierige Situation. Kein göttlicher Nimbus, der ihm alle Freiheiten gestattet, kein patriarchales fürstliches Prestige, das von allen erst einmal Gehorsam einfordert. Dass er ein charmanter Womanizer ist, der im weiteren Verlauf allein acht Walküren sowie die Zwillinge Siegmund und Sieglinde zeugen wird, nimmt man ihm ungefragt ab, aber ohne ein prunkvolles Kostüm ist er nur einer von uns. Sein großer gut geführter Bassbariton füllt das Haus, seine kleinlaute Ratlosigkeit angesichts des Verlusts seiner Schwägerin Freia habe ich noch nie so authentisch dargestellt gesehen. Er ist ein charismatischer Sänger-Darsteller, dem starke Vaterfiguren auf den Leib geschrieben scheinen.
Catriona Morison als wahre Dame Fricka, seine Frau, ihre angepassten Söhne Donner (Maximilian Krummen) und Froh (Kwonsoo Jeon) und Frickas ledige Schwester Freia (Ekaterina Kudryavtseva) agieren wie eine ganz normale Familie im Patriarchat.
Die Rheintöchter Woglinde (Narine Yeghiyan), Wellgunde (Milda Tubelyté) und Floßhilde (Isabel Stüber Malagamba) mit ihren frischen blau-weißen Office-Outfits und den roten Pumps verhalten sich wie heute ganz normale junge Frauen. Wenn ihnen ein Mann nicht gefällt, und schon gar einer, der binnen kurzer Zeit alle drei anbaggert, machen sie sich über ihn lustig. Das Rheingold bedeutet ihnen nicht mehr als ein schönes Spielzeug. Reiner Mesecke als sensibler Fasolt und Jisang Ryu als robuster Fafner geben den betrogenen Riesen starke Bass-Kontur. Fasolt macht schmerzhaft deutlich, dass kein Geld die Liebe aufwiegen kann.
Weiterer Mittelpunkt der Produktion ist Thomas Mohr als Loge. Er, der rastlos die Welt durchstreifende Intellektuelle, ist Katalysator der Handlung. Er lebt diese Partie in jeder Phrase, mit jedem Ton. Loges intellektuelle Überlegenheit ist greifbar. Die Farben dieser Stimme und die überlegten Phrasierungen lassen erkennen, dass hier jemand den feinsten Hintergründen der Partitur nachgespürt hat und sie mit der Kraft eines Heldentenors und der Akribie eines erfahrenen Liedsängers auszudrücken weiß.
Wotans Gegenspieler wird verkörpert von Michael Mrosek, der auch als von den verspielten Rheintöchtern entkleideter Alberich eine gute Figur macht. Er tut einem richtig Leid, denn das hat er nicht verdient! Umso verständlicher seine Verbitterung, die in Raffgier und Ausbeutung auch des eigenen Bruders Mime mündet. Sein Fluch ist einer der dramatischen Höhepunkte des Abends. Auffallend gut charakterisiert Matthew Peňa den verschlagenen Schmied Mime, dem es nicht gelingt, seinem brutalen Bruder Alberich die von ihm geschmiedeten Kostbarkeiten Tarnhelm und Ring zu unterschlagen. Schon die Körpersprache zeigt, dass er ein egoistischer Opportunist ist.
Das Staatsorchester Braunschweig spielt unter der Leitung des Braunschweiger Generalmusikdirektors Srba Dinič solide und klangschön mit eher flotten Tempi.
Mit den Gästen Aris Argiris, Thomas Mohr und Matthew Peňa und dem vielfältigen Ensemble des Hauses ergibt sich eine überzeugende Ensembleleistung auf hohem Niveau, die vom Publikum lebhaft beklatscht wurde. Lediglich die Texteinschübe wurden mit einigen Buhrufen bedacht. Sie haben tatsächlich eher gestört, wenn man das Stück schon kannte. Ein Zwischenruf aus dem Publikum: „Jetzt ist aber genug,“ wurde von Hagen so souverän pariert, dass man dachte, es sei inszeniert gewesen.
Zur Premierenfeier waren viele geblieben, was zeigt, dass die Eröffnungspremiere einer Spielzeit ein Ereignis ist, an dem die Stadtgesellschaft gerne teilnimmt. Dieser Aspekt von Theater wird häufig außer Acht gelassen, ist aber wichtig. Man trifft Leute, die man kennt, die man aber nicht unbedingt zu sich nach Hause einladen würde, und kann sich über Stück und Inszenierung austauschen. Als Ortsfremde sieht man das viel klarer und teilt das Schicksal mit den Gastsängern. Ich konnte beobachten, dass die Stars des Ensembles von Premierengästen umlagert waren.
Das Theater Braunschweig setzt den „Ring“ mit der „Walküre“ fort, bei der das Schauspiel federführend ist, „Siegfried“ wird getanzt, und die „Götterdämmerung“ wird wieder als Oper konzipiert.
In einem nicht zu großen Dreispartenhaus mit guter Akustik gelingt ein mythologisch dekonstruierter Zugang zum Vorabend der Tetralogie auf hohem künstlerischem Niveau. Die Idee, der Generation der Kinder – Brünhild ist Wotans Tochter, Hagen ist Alberichs Sohn – eine Stimme zu verleihen, ist allerdings wegen der Unterbrechung des Musikflusses problematisch. So prägnant habe ich die Kritik an Wotan allerdings noch nie gehört. Für Neulinge, zum Beispiel auch Schülerinnen und Schüler, sicher ein interessanter Zugang.
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Staatstheater Braunschweig / Stückeseite
- Titelfoto: Staatstheater Braunschweig/Rheingold | Nina Wolf, Aris Argiris /Foto ©Thomas M. Jauk