Gelungenes Education- Projekt zu Beethovens 250. Geburtstag
„Hast du ein Selfie für mich?“, fragt Ludwig. „Aber dann bekomme ich auch eins von dir“, entgegnet Josephine. Mit diesem Chat-Dialog auf dem Smartphone beginnt die Liebesgeschichte von Ludwig und Josephine: er ihr Klavierlehrer, sie hochbegabte Klavierschülerin, dargestellt von David Kösters (Theater Krefeld) und Marlene Goksch (Theater Münster). Sie spielt im Unterricht eine Sonate Beethovens, entdeckt zu Hause auf dem Notenblatt seine Nummer und schickt ihm eine Message per SMS.
Ein Chat wie in „Gut gegen Nordwind“, dem Film nach dem gleichnamigen Roman von Daniel Glattauer! Die weiteren Dialoge zitieren unter anderem erhalten gebliebene Briefe Ludwig van Beethovens an Gräfin Josefine Deym von Strielitz, geborene Gräfin Brunsvik de Korompa, ab 1810 Baronin von Stackelberg, und deren Antwortschreiben und Tagebuchnotizen, werden aber auch durch Alltagssprache ergänzt.
Musikwissenschaftler vermuten, dass Josefine Brunsvik Beethovens „unsterbliche Geliebte“ war, an die er am 6. und 7. Juii 1812 einen dreiteiligen Brief geschrieben hat. Beethoven-Biographin Christine Eichel begründet in ihrem Buch „Der empfindsame Titan“ sogar, dass Josefines siebtes Kind, die am 8. April 1813 geborene Theresia Cornelia von Stackelberg, genannt Minona, tatsächlich von Beethoven in Prag gezeugt wurde. Josefine hat die Spuren verwischt, aus ihren Tagebüchern wurden Seiten herausgetrennt.
Die Geschichte der von 1799 bis 1813 andauernden Beziehung zwischen Beethoven und der Mutter von acht Kindern wird musikalisch unterlegt durch die Lieder aus dem Liederzyklus „An die ferne Geliebte“, gesungen vom Kinderchor des Aalto-Theaters Essen unter der Leitung von Patrick Jaskolka, Klaviermusik Beethovens und Passagen aus seiner 3. Sinfonie. Die Lieder des Zyklus hat Jaskolka für seinen Chor eingerichtet und arrangiert. Sie eignen sich ganz hervorragend für einen guten Jugendchor, weil Beethoven sie für einen begabten Dilettanten geschrieben hat.
Der Dialog aus dem Jahr 1804 nach dem Tod ihres ersten Gatten Graf Deym von Strielitz ist ein ganz „normales“ Gespräch, wie es zwischen zwei befreundeten Musikern stattfinden könnte. Im Telefonat zwischen Ludwig („Hallo, Louis“) und Josefine („Hi, Pepi“) verabreden sie sich zum gemeinsamen Musizieren, untermalt durch Klaviermusik Beethovens und einem Zitat aus der 3. Sinfonie, gespielt von den Essener Philharmoniker unter Tomáš Netopil.
Auch Beethovens beginnende Taubheit wird angerissen. Man kommuniziert per SMS.
Nach der Trennung Josefines von ihrem zweiten Ehemann verabreden die beiden per SMS ein Treffen in Prag, das vermutlich Ende Juni 1812 tatsächlich stattgefunden hat.
In weiteren Dialogen geht es aber auch um Irritationen in der Beziehung, in der sich Beethoven als besitzergreifend und eifersüchtig erweist. Die Liebe der beiden scheitert letzten Endes am Standesunterschied und an gesellschaftlichen Konventionen.
Die jungen Schauspieler David Kösters und Marlene Goksch verkörpern absolut authentisch das Liebespaar, das an gesellschaftlichen Konventionen, aber auch an privaten Konflikten scheitert. Sie sind perfekte Identifikationsfiguren für junge Zuschauer.
In Aufnahmen des Kinderchors im Foyer des Aalto-Theaters, begleitet von der Pianistin Iva Jovanović, wird der Liederzyklus „An die ferne Geliebte“ komplett zur Untermalung der langjährigen Brieffreundschaft zwischen den beiden genutzt. Am Schluss wird nur noch vom Chor gesungen, die Filmstory geht in ein Konzert über, das im Foyer des Aalto-Theaters stattfindet.
Die durch Briefe und Tagebücher dokumentierte Liebes- und Freundschaftsbeziehung zwischen Ludwig van Beethoven #BTHVN und Gräfin Josefine Brunsvik de Korompa haben Mitglieder des Kinderchors in die heutige Zeit verlegt. Sie dient als biografische Ergänzung und Einführung in ihre Aufführung einer für Kinderchor gesetzten Bearbeitung des Liederzyklus „An die ferne Geliebte“, op. 98, erschienen im Oktober 1816 im Verlag S. A. Steiner & Comp. in Wien, nach Gedichten von Alois Jeitteles, die nie separat aufgelegt wurden.
Dieser Liederzyklus Beethovens gilt als erster Liederzyklus überhaupt. Die Tonarten und Übergänge zwischen den Liedern sind perfekt aufeinander abgestimmt. In sechs kurzen Liedern für Männerstimme, die Beethoven seinem langjährigem Gönner Fürst Joseph von Lobkowitz widmete, besingt er die zuerst euphorische Verliebtheit und Sehnsucht, dann aber die Resignation einer enttäuschten Liebe: „Nur unserer Liebe kein Frühling erscheint,/ Und Tränen sind all ihr Gewinnen.“
Die filmische Realisation ist tontechnisch (Georg Bongartz, Tonmeister) szenisch (Klaus Ramma, Schnitt) und optisch (Kamera: Sebastian Behler) absolut professionell, der Übergang von der Filmstory zum Chorkonzert wirkt organisch. Die Locations in Essen, unter anderem der Park am Aalto-Theater und Privatwohnungen der Beteiligten, passen perfekt zur dargestellten Geschichte.
Für mich als relative Kennerin der Werke und der Biographie Beethovens ist der Film ein Anreiz gewesen, die Geschichte der geborenen Gräfin Josephine Brunsvik noch einmal nachzulesen und den gespielten Klavierstücken nachzuforschen. Für Jugendliche und Erwachsene, die sich noch nie mit Beethoven befasst haben, ist die Liebesgeschichte zwischen einer begabten Klavierschülerin und ihrem zehn Jahre älteren charismatischen Klavierlehrer ein wunderbarer Liebesfilm, der mit Filmmusik von Beethoven untermalt ist und zum Weiterfragen anregt.
Die Gefühle, die der Kinderchor besingt, sind zeitlos und typisch für tragisch endende Liebesgeschichten aller Art. Allen gemeinsam ist die himmelhoch jauchzende Euphorie der ersten Verliebtheit, die Sehnsucht, der intensive Austausch von Gedanken und Gefühlen und die Resignation der Entsagung. Bei Beethovens Auftraggeber Lobkowitz endete die Liebe mit dem frühen Tod seiner geliebten Gattin.
Als Education-Projekt ist dieser Film absolut erstklassig, denn er bringt mit dem Medium Spielfilm via youtube und Kommunikationsstrukturen unserer Zeit (Telefon, vorgefertigte Grußkarten, SMS) die Intention des Liederzyklus „An die ferne Geliebte“ zum Ausdruck, animiert aber auch dazu, sich mit dem Komponisten Beethoven und seiner Biografie auseinander zu setzen.
Der Film ist ein Impuls, der Schüler*innen stark motivieren kann, sich für Beethoven und seine Zeit zu interessieren, darüber zu recherchieren und seine Werke zu erkunden und auch selbst aufzuführen, wie Jaskolka das mit seinem Kinderchor getan hat.
Der Einstieg über den Klavierunterricht ist genial und spricht vor allem Schüler*innen an, die selbst ein Instrument spielen lernen. Das Thema Liebe interessiert alle. Die Länge des Films (30 Minuten) ist perfekt, denn Schüler*innen können sich häufig nicht mehr auf lange Formate konzentrieren.
Es stellen sich auch Fragen über den Zeitgeist: Warum stand Beethoven gesellschaftlich so weit unter der Gräfin Josefine, dass eine Ehe der beiden nicht in Betracht kam? Obwohl sie sich doch liebten? Und obwohl sie verwitwet war? Wie war die Stellung der Frau in Beethovens Zeit?
Obwohl keine Kostüme à la „Bridgerton“ eingesetzt werden – warum auch? So ist es viel besser! -stellt sich die Frage, was früher eigentlich alles anders war als heute, einschließlich der Mode.
Diese Fragen wirft Jaskolka mit seinem Film auf. Den sollte man umgehend im Musikunterricht einsetzen oder in einem fächerübergreifenden Beethoven-Projektunterricht. Er ein hervorragender Impuls für entdeckendes Lernen, man braucht nur das Internet dafür. Die Schlüsselfragen liegen auf der Hand und können von den Lernenden selbst formuliert werden.
Die Produktion war zunächst als szenische Aufführung mit dem Kinderchor geplant, wurde dann aber wegen der Corona-bedingten Auflagen zum Filmprojekt umgewidmet. Man erkennt das an der weiträumigen Aufstellung der Sänger*innen im Probenraum und im wunderschönen Foyer des Aalto-Theaters.
Angeregt wurde Chorleiter Jaskolka durch das Förderprogramm „B33THOV3N…AND3RS“ des Bundesmusikverbandes Chor und Orchester. Das Ziel des Programms sich mit dem Leben und Schaffen Beethovens in neuer Weise auseinanderzusetzen, hat er mit diesem Film in besonderem Maße erreicht, nicht nur für die vier Mitglieder des Chors, die mit ihm das Drehbuch geschrieben haben, die Chorsänger*innen, die die Lieder einstudiert haben, sondern auch für die Jugendlichen und Erwachsenen, die den Film sehen. Es ist eben nicht ein abgefilmtes Konzert, sondern eine Filmhandlung mit Beethovens Musik und Beethovens Schicksal als Inhalt.
Der Film wird sicherlich beim Videowettbewerb des Bundesmusikverbandes Chor und Orchester, dessen Ergebnisse voraussichtlich ab April 2021 bekanntgegeben werden, gut ankommen.
Hier die Links:
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Aalto Theater Essen
- Titelfoto: Aalto-Theater Essen / Foto: Thomas Schwoerer
- Alle weiteren Fotos: @Patrick Jaskolka-Aalto Theater Essen