
Vor knapp zehn Jahren entfachte der Kultregisseur Barrie Kosky mit der Premiere seines „Ball im Savoy“ eine wahre Renaissance der Berliner Operette aus den 1920er Jahren. Insbesondere der von den Nazis verjagte und nach dem 2. Weltkrieg zu Unrecht in Vergessenheit geratene jüdische Komponist Paul Abraham hat es Kosky angetan. So ist sein Operettenstil doch ganz andersartig als jener wienerische von Johann Strauss oder der von Jacques Offenbachs Pariser Operetten. Abrahams Musik klingt modern und komplex, seine jazzartigen Harmonien antizipieren das Genre des Musicals, die Charaktere sind tiefgründig und nicht so schablonenhaft, Abrahams Handlung weiß zu überraschen. Denn auch die gesellschaftlichen Streitfragen der 1920er Jahre wusste Paul Abraham gekonnt in seinem „Ball im Savoy“ zu verstecken. Obgleich auf diesem Ball zwar die für Operetten üblichen Kostümierungen, Affären und Verwechslungen stattfinden, komponierte Abraham die Handlung aus zu damaliger Zeit ungewöhnlich weiblicher Perspektive. (Rezension der Aufführung vom 11. Februar 2022)
Zum „Ball im Savoy“ wird ein Überraschungsgast erwartet, ein großer Star der Zwanziger Jahre, der Jazzkomponist José Pasodoble. Dahinter verbirgt sich jedoch ein Pseudonym, denn die wahre Identität des Künstlers ist unbekannt, doch man sagt, er wird sich auf dem Ball zu erkennen geben. Und dieser José Pasodoble ist in Wahrheit eine Frau; die für das „akrobatischen Big-Band Jodeln“ bekannt gewordene Daisy Darlington. Das wirkt auf den ersten Blick sehr unterhaltend, aber zeigt doch den ernsten gesellschaftlichen Bezug. Die Rolle der Frau war zu Zeiten der Weimarer Republik noch eine andere – trotz zunehmender Emanzipierung – eine Frau als erfolgreiche Jazzkomponistin konnte sich wahrlich niemand vorstellen; nur unter männlichem Pseudonym war ihr der Erfolg gegönnt.

Beim „Ball im Savoy“ treibt es jeder mit jedem. Als die weibliche Hauptfigur Madeleine ihren Seitensprung voll emanzipatorischer Überzeugung in der Öffentlichkeit preisgibt, dafür von der Damenwelt auch noch gefeiert wird, dreht der Komponist Paul Abraham die für Operetten typischen Affären und Techtelmechtel einfach ad absurdum: Ungemütlich wird es, weil Gatte Aristide seiner Frau Madeleine trotz aller Beweise und nachvollziehbarer Beteuerungen einfach nicht glauben möchte, dass diese ihn betrogen hat. Der Coup zum Finale? Sie ist ihrem Gatten schlussendlich doch treu geblieben, die Affären waren bei beiden nur vorgetäuscht. Paul Abraham hat sein Publikum an der Nase herumgeführt, dass man sich treu bleibt kennt man eigentlich nicht aus der Operette! „Was sind mir die Männer gewesen? Romane – nur flüchtig gelesen“ singen die Frauen im Chor dazu. Die Rolle der Männer ist im Savoy wohl doch eher nachrangig zu verstehen.
Glücklicherweise konnte der Komischen Oper Berlin die grandiose Premierenbesetzung bis zur jetzigen Wiederaufnahme weitestgehend erhalten bleiben. Allen voran die Berliner Theaterlegende Helmut Baumann, der mit unglaublicher Komik noch im Alter von 83 Jahren die chauvinistische, zugleich interessante Rolle des türkischen Lebemanns Mustafa Bey verkörperte. Interessant daher, so sagt es Kosky im Interview, da gar nichts türkisches an seiner Partie zu finden sei, Mustafa Bey sei vielmehr eine Art Ersatz-Jude, den man damals nicht mehr auf der Bühne darstellen durfte, dies zeige auch seine jiddisch geprägt Musik.

Die als Chansonsängerin und Schauspielerin bekannte Dagmar Manzel zeigte als unnachahmliche Persönlichkeit mit Berliner Schnauze, was es heißt, eine Partie sich vollends zu eigen zu machen. Sie ist seit jeher unübertroffenen in all ihren Rollen an der Komischen Oper und auch die Partie der Madeleine könnte niemand so verkörpern wie sie. Katharine Mehrling brachte der Aufführung den ihr gebührenden Glamourfaktor. Mit unendlichem Charisma und ausgeprägter Bühnenpräsenz eroberte Mehrling die Herzens des Publikums in leuchtend-schillernder Darstellung als Daisy Darlington, sogar jodelnd!
Am Pult stand mit Adam Benzwi ein ausgewiesener Experte für die Chansons und den Jazz der Operette des frühen 20. Jahrhunderts. Benzwi hat die Partitur zu „Ball im Savoy“ selbst rekonstruiert und übernahm auch die Klavierbegleitung, schwungvoll-jazzig knisterte und klirrte es dank ihm aus dem Graben der Komischen Oper. Und auch der Chor der Komischen Oper sei gepriesen, dieser komplettierte des Ensemble mit herrlicher Spielfreude. Hat es anderswo jemals einen szenisch derart exzellent agierenden Opernchor gegeben?
Barrie Kosky hat eine Welt des Berlins der 1920er Jahre geschaffen – dass die Handlung eigentlich in Südfrankeich spielt, ist dabei unerheblich – die absolut authentisch erscheint, und die es doch so nie gegeben hat; weder auf der Bühne des Berliner Schauspielhauses zur Uraufführung noch in der realen Gesellschaft. Und dennoch scheint der Geist des 1960 in Ungarn verstorbenen und verrücktgewordenen Komponisten Paul Abrahams in dieser Inszenierung weiterzuleben. Wie Kosky all die Anzüglichkeiten und Doppeldeutigkeiten des Librettos in frechem Witz und mit raffinierten Tanzeinlagen bei fließenden Szenenwechseln schwungvoll auf die Bühne bringt, grenzt schon an Genialität. Auch zehn Jahre nach seiner Premiere ist der „Ball im Savoy“ all das, was gute Operette ausmacht, ein Exempel für jede moderne Regiearbeit: Bitte so, und nicht anders! Denn auch nach knapp 3,5 Stunden dachte das Publikum sich „Weitermachen! Lasst diese Aufführung nicht zu Ende gehen“. Weitergemacht hat Kosky ja schließlich ja dann auch mit der „Blume von Hawaii“ oder den „Perlen der Cleopatra“! Dies soll nun im Jahr 2022 die letzte Wiederaufnahme-Serie des „Ball im Savoy“ werden, daher unser Tipp: Anschauen, hingehen und sich verführen lassen!
- Rezension von Phillip Richter / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Komische Oper Berlin / Stückeseite
- Titelfoto: Komische Oper Berlin / BALL IM SAVOY/ Ensemble/ Foto © Iko Freese / drama-berlin.de