Der Serenissima, der Allerdurchlauchtesten, der ehrwürdigsten unter den faszinierenden Kulturstädten der Welt, widmet der Niederländer Willem Bruls sein Buch Venedig und die Oper. Auf den Spuren von Vivaldi, Verdi und Wagner. Alle Wege führen (sprichwörtlich) nach Rom, aber alle Opern haben ihren Ursprung in Venedig. Auf der Suche nach Schauplätzen, Theatern und Opernhäusern, nach Geburtshäusern, Sterbezimmern und Inspirationsorten nimmt der Autor seine Leserschaft bei 19 Stadtspaziergängen an die Hand. Klug und konzis, musikalisch, literarisch und historisch bestens bewandert eröffnet er Einblicke in Leben und Werk der größten Protagonisten der Oper in den letzten 400 Jahren.
Wer Venedig bereist und erkundet hat, schließt die Augen und hört das Wasser der Kanäle an die Steinstufen und gegen die Ufermauern lappen. Der Schrei der Möwen an der Rialtobrücke, die Rufe der Gondoliere, das Dieseln der Vaporetti – alles sofort vor Ohren. Der abendliche Moder vom Brackwasser, die morgendliche Brise vom Lido – auch der Geruch hat sich auf immer eingeprägt. Brücken, Palazzi, Renaissancefassaden – das synästhetische „Gesamtkunstwerk“ Venedig bespielt die Projektionsfläche im Hintergrund, wenn man das Buch zur Hand nimmt.
Umso leichter folgen wir den Erkundungsgängen, die viele der magnetischen Punkte Venedigs streifen. Natürlich verläuft sich der Autor, selbstredend steht er oft genug vor undurchdringlichen Mauern, und häufig gelingt ihm nur mit zweimal um die Ecke denken und gehen der Zutritt zu einem Ziel. Venedig halt!
Wie bedauerlich, dass Monteverdi sich mit dem M als Anfangsbuchstabe nicht in die alliterierende Liste der Komponisten im Untertitel einreiht. Ihm hätte ein solcher Ehrenplatz gebührt. Er gilt mit der Komposition von L’Orfeo als Begründer der modernen, säkularen Oper. Warum ist das wichtig? Rom und Venedig stehen in erbitterter Rivalität. Was der Papst in Rom, ist der Doge in Venedig. Wo in Rom eine strenge klerikale Hierarchie herrscht, gibt es in der freien Republik Venedig gewählte Vertreter der Bürger, den Senat und den Rat der Zehn. Waren in Rom nur bibelbezogene Oratorien erlaubt, lag der Reiz von musikalischen Aufführungen in Venedig durchaus in erotischen Verwicklungen. Oper in Rom Teufelswerk, in Venedig Lebenselixier.
Ein Gemeinplatz: Mit dem Erstarken der portugiesischen und britischen Handelsflotten verlor Venedig seine Weltmachtstellung. Und es drohte in der eigenen Dekadenz zu ersticken. Hier lohnt es sich schon, einen großen Bogen zum letzten Kapitel von Venedig und die Oper zu schlagen. Thomas Mann, Gustav Mahler, Benjamin Britten, Luchino Visconti, die Cholera – der Tod in Venedig ist allgegenwärtig, die Lebens- und Schaffenskrise angesichts der verdrängten Homosexualität ebenfalls. Nice to know – Visconti, der seine Filme wie Opern ausstaffierte, war tatsächlich auch Opern- und Theaterregisseur, der mit Maria Callas und Leonard Bernstein für ein Wiederaufleben der Oper nach dem 2. Weltkrieg sorgte.
Von Cavallis La Calisto hin zu Händels Agrippina, beide in Venedig uraufgeführt, folgt man gern den Erläuterungen zu sexuellen Übergriffen, Populismus, Ränkespiel und Lügen im Plot der Opern. Vivaldi und sein Orlando furioso markieren eine weitere Wegemarke, wo der Protagonist als moderner Antiheld erscheint. Vom Frauenheld Casanova und Mozarts Don Giovanni gibt es Neues zu erfahren. Und natürlich davon, dass Richard Wagner Teile von Tristan und Isolde hier komponierte, mit der Süße der morbiden Stadt in Auge und Ohr. Hier verschied der große Komponist, dem Bruls auch demagogisch-betörende Manipulationen beimisst. Gesamtkunstwerk? Das ist für ihn Venedig selbst, Venedig ist Oper, ist Musik.
Auf seinem letzten Gang begleitet der Autor auch Luigi Nono, der so revolutionär neu komponierte. Seine Partituren enthalten keine Noten, lange Passagen bestehen nur aus Stille und einem entfernten Geräusch. Mit einem Blick auf diesen zeitgenössischen Komponisten beschließt Willem Bruls seinen Zirkel von exakt 400 Jahren Operngeschichte. Venedig war immer Avantgarde und Venedig ist immer Tradition.
Daraus hat es sich seine Lebendigkeit erhalten; daraus hat sich La Fenice immer wieder aus der Asche erhoben. Eine Stadt mit einer solchen Theatertradition wird eben daraus Neues schöpfen. Viva la serenissima!
Gut geschrieben ist dieses Buch mit fabelhaftem Insiderwissen des Dramaturgen und Librettisten Willem Bruls. Er knüpft Zusammenhänge, die Leserinnen und Leser in die Lage versetzen, Oper und Musik aus der jeweiligen Zeit heraus zu verstehen: Geschichte, Politik, Mode, Klerus, Adel … Barockopern mit der Psychologie des 20. Jahrhunderts zu interpretieren werde dem jeweiligen dramma per musica nicht gerecht.
Über die faszinierenden Einblicke in die Opernwelt der letzten vier Jahrhunderte verweilt er auch mal im Caffè Florian und gönnt sich einen heillos überteuerten Cappuccino, beschreibt verschiedentlich das Piano Nobile eines Palazzos, beschäftigt sich mit Dekostoffen und befragt Stiftungs- und Museumsleiter. Er sucht das Danieli auf und das Grand Hôtel des Bains, erforscht die Stereoeffekte des Kirchenbaus und die Urform aller Theater. Kurzweilig und informativ, so wie ein Sachbuch sein sollte. Darüber hinaus fein übersetzt. Da verdient Bärbel Jänicke ein besonderes Lob.
Ein Tröpfchen Wasser in den Wein, weil doch nicht alles eitel Sonnenschein? Die Qualität des Inhalts hätte vom Verlag eine wertigere Aufmachung verdient. Mit einem großzügigeren Druck und mit Fotos, die Venedig in seiner Pracht und seinem Verfall gerecht werden. Diese visuellen Beigaben hätte man besser weggelassen. Ebenso wie die Punkte hinter den meisten Überschriften. Dennoch, volle Leseempfehlung!
- VENEDIG UND DIE OPER Auf den Spuren von Vivaldi, Verdi und Wagner/ Verlag: Seemann Henschel Verlagsgruppe/Erscheinungsdatum:19.3.2021/ISBN:978-3-89487-818-4
- Gastartikel von Mechthild Tillmann / liveinderoper.com
- Titelfoto: Gran Teatro la Fenice/Foto @ Josef Fromholzer