Regisseur Dmitri Tcherniakov entsagt jeglicher Seefahrer-Romantik. „Der fliegende Holländer“ spielt sich in einer miefigen Kleinstadt ab, von Meer und großer Welt keine Spur. Der Chor wird aus der Probehalle eingespielt und von Chorsängern stumm gedoubelt. Asmik Grigorian überzeugt auf der ganzen Linie als aufmüpfige schwärmerische Senta, Marina Prudenskaya als Mary, ihre Ziehmutter, erhält eine ungeahnte Bedeutung. Jeglicher Glaube an Untote oder Verfluchte wird ausgeklammert, stattdessen ist der „Holländer“ durch einen Schicksalsschlag in der Kindheit traumatisiert. In der 145-jährigen Geschichte der Bayreuther Festspiele steht erstmalig eine Frau – Oksana Lyniv – am Dirigentenpult und beweist, dass man kein Mann sein muss, um Wagner zu dirigieren.
Im Vorspann zur Übertragung der Premiere im Kino – ich war im Kinopolis Bad Godesberg und habe für einen Komfortplatz 33,00 € bezahlt – interviewte Axel Brüggemann einige Protagonisten und gab den Inhalt des Original-Werks an. Damit hat Dmitri Tcherniakovs Inszenierung nur die Musik gemeinsam.
Lange stand es auf der Kippe, ob die Bayreuther Festspiele 2021 überhaupt stattfinden können, 2020 sind sie wegen der Corona-Pandemie ersatzlos gestrichen worden. Nach langem Ringen einigte man sich darauf, die Festspiele für 911 Zuschauer – etwa die Hälfte der Plätze – zu öffnen und nur Genesene, Geimpfte und Getestete mit Masken zuzulassen. Alle Karten sind personalisiert und können nicht übertragen werden. Die Karten für alle sieben Vorstellungen waren im Nu ausverkauft.
Zum Konzept der Festspiele unter der Leitung von Katharina Wagner gehört es, dass die Premiere am 25. Juli in ausgewählte Kinos und vom Bayrischen Rundfunk live übertragen wird. Die Premiere konnte auch live gestreamt werden.
Tiefenpsychologisch ausgedeutet kann die Konstellation der Figuren in der Tat so banal sein wie in Tcherniakovs Inszenierung – die große Auftrittsarie des Holländers „Die Frist ist um“ in einer Kaschemme „ohne WiFi“, wo seine Mannschaft dumpf vor einem Bier herumhockt und der Steuermann an einem Nebentisch eingenickt ist, verkommt hier zum Schwadronieren eines alten Wichtigtuers.
John Lundgren, stimmlich souverän als Holländer, wirkt undurchsichtig und kalt wie ein Fisch. Ihm geht es nur um sein eigenes Heil, von Liebe zu Senta keine Spur. Erst als er uneigennützig auf sie verzichtet kann er Erlösung finden – auf sehr ungewöhnliche Weise.
Auch die Entdeckung, dass die Mannschaft des Holländers tot ist, wird als reine Chorszene mit den beiden Chören, die in zwei verschiedenen Blöcken auf hereingetragenen Campingstühlen herumsitzen, in ihrer dramatischen Wucht verschenkt.
Es stellt sich allerdings die Frage, ob man den Holländer überhaupt noch wie von Wagner in der Partitur vorgeschrieben inszenieren kann, weil heute kaum noch jemand an Verfluchung, ewige Verdammnis und Erlösung glaubt.
Die Stärke der der Inszenierung liegt ganz eindeutig in den Ensembles im 2. und 3. Akt. Wie Asmik Grigorian als rebellierende pubertierende Göre, die sich in die Schwärmerei für den Holländer hineinsteigert, die die Rolle seiner „Erlöserin“ in romantischem Überschwang annimmt und sich trotzig gegen die Vorhaltungen ihres Verlobten Erik wehrt, gestaltet, ist ganz großes Musiktheater. Und sie hat die stimmlichen Mittel dazu. Ihr hochdramatischer Sopran ist nicht immer schön, aber durchschlagend und ausdrucksstark. Hier singt eine junge Frau, die sich durchsetzen kann.
Das Terzett im 3. Akt mit dem Showdown „Erfahre das Geschick …“ ist ein unbestrittener dramatischer Höhepunkt der Oper. Sentas „Ich bin´s, durch deren Treu dein Heil du finden sollst“ macht eindeutig klar, worum es hier geht: Todessehnsucht, Opferbereitschaft, Liebestod und Erlösung – zentrale Leitlinien in Wagners Werk, und Grigorian verkörpert das absolut glaubwürdig.
Die 43 Jahre alte Dirigentin Oksana Lyniv bleibt Wagners Musik nichts schuldig. Ihr stehen mit dem Orchester und dem Chor der Bayreuther Festspiele ein Weltklasseorchester und ein Weltklassechor zur Verfügung, die sie zu dramatischen Höhepunkten führt. Sie gestaltet musikalisch Effekte wie Sturm und Flutgewalt oder das Surren der Spinnräder. Diese haben in der szenischen Umsetzung keine Entsprechung.
Vor allem im 1. Akt werden viele Theatereffekte dadurch verschenkt, dass sich die Szene in einem Wirtshaus abspielt und eben kein großer Chor auf der Bühne steht, sondern nur eine Handvoll Chorprofis.
Das Bühnenbild von Dmitri Tcherniakov besteht aus beweglichen Elementen, die Häuser einer Kleinstadt darstellen, im 1. Akt mit einer Kneipe, im 2. Akt mit einem spießigen Wintergarten, in dem Senta mit dem Holländer zusammentrifft, im 3. Akt mit einer Häuserfront und einem großen freien Platz, auf dem die Massenszene sich abspielt. So sind rasche Szenenwechsel möglich.
Die Männer tragen zeitlose Seemannspullover und lange Mäntel, die Mannschaft des Holländers in dunkelblau, Dalands Leute eher Grautöne. Der Reichtum des Holländers wird durch eine protzige Armbanduhr symbolisiert.
Senta wird mit bunten Strähnen in den halblangen blonden Haaren und der Körpersprache und Outfit einer jungen Revolutionärin charakterisiert. So drückt Elena Zayetseva mit den Kostümen die Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen aus. Senta ist mehr als eine pubertierende Göre, sie rebelliert gegen die Enge ihrer Stadt.
Der biedere Daland in einer spießigen olivgrünen Strickjacke, opulent besetzt mit dem bassstarken Georg Zeppenfeld, kapiert gar nichts, ihm geht es nur darum, seine Tochter reich zu verheiraten. Mary dagegen, hier als Dalands Lebensgefährtin von Marina Prudenskaya dargestellt, ahnt das Unheil, das sich anbahnt und führt das überraschende Ende herbei.
Aufgrund der Inszenierung liegt der Fokus auf der Dreiecksgeschichte von Senta als schwärmerischer Exzentrikerin, dem undurchsichtigen Holländer und Eric Cutler als Erik, der hier mit exquisit geführtem lyrischem Tenor die Stimme der Vernunft darstellt. Erstes Highlight ist sein Duett mit Senta.
Aufgrund der Inszenierung verliert die Figur des „Holländer“ erheblich an Fallhöhe, mit der Konsequenz, dass auch die dramatische Wirkung seiner Auftritte trotz Wagners Musik verpufft. Auch Daland verkommt dramaturgisch eher zur problematischen Nebenfigur, weil er ja seine Tochter unreflektiert an eine zufällige Kneipenbekanntschaft verschachert.
Attilio Glaser als Steuermann überzeugt mit herausragend klangschönem Tenor, die anderen Solisten stehen ihm darstellerisch und sängerisch nicht nach. Herausragender Star der Produktion, die auch weitaus dem meisten Beifall bekam, ist Asmik Grigorian als Senta.
Das Mienenspiel Marina Prudenskayas als Mary beim Treffen Sentas mit dem Holländer erzählt Bände: sie ist mit dem Deal Dalands mit dem Holländer überhaupt nicht einverstanden und macht sich Sorgen um ihre Ziehtochter.
Es ist die Stunde der Frauen, denn der Nimbus der Männer als weitgereiste Seefahrer wird verschenkt.
Die Kino-Vorstellung hat gegenüber einer Live-Vorstellung den unschätzbaren Vorteil, dass man keine Sicherheitschecks durchlaufen muss, dass man einen bequemen Sessel hat und dass man die Protagonisten in Nahaufnehmen sehen kann.
Es fehlt allerdings die Live-Musik und das Gemeinschaftserlebnis auf dem grünen Hügel, das durch nichts zu ersetzen ist.
Gegenüber dem Livestream hat man eine exzellente Klangqualität und ein großes Bild, fast wie im Festspielhaus. Der Stream ermöglicht es darüber hinaus, einige Szenen noch einmal zu sehen, und da lohnen sich vor allem alle Szenen mit Sentas Beteiligung.
Lebhafter Beifall, schon wegen der Tatsache, dass es überhaupt Oper gab, und einige Buhs für das Regieteam. Aber man hat schon andere Ovationen in Bayreuth erlebt!
Die Premiere kann immer noch gestreamt werden unter https://www.br-klassik.de/concert/ausstrahlung-2596084.html
- Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. Das Opernmagazin
- Bayreuther Festspiele 2021
- Titelfoto: Bayreuther Festspiele 2021/DER FLIEGENDE HOLLÄNDER/Foto ®Enrico Nawrath