Osterfestspiele Baden-Baden: „Die Frau ohne Schatten“ aus weiblicher Perspektive

Festspielhaus Baden-Baden/DIE FRAU OHNE SCHATTEN/Ensemble/Foto @ Martin Sigmund

Die während des ersten Weltkriegs komponierte, parabel- sowie rätselhafte Märchenoper Die Frau ohne Schatten gilt als Gipfelpunkt der gemeinsamen Arbeit von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal. Ähnlich wie Richard Wagners Der Ring des Nibelungen, Gustav Mahlers Sinfonie der Tausend oder Arnold Schönbergs Moses und Aron sprengt dieses gigantisch besetzte Werk hinsichtlich Orchestergröße als auch Anspruch an die vokalen Soli-Stimmen den Rahmen einer jeden Repertoireaufführung. Insbesondere die nun in Baden-Baden zur Aufführung gekommene ungekürzte Fassung dieser „letzten romantischen Oper“, wie beide Schöpfer ihr Werk bezeichneten, beweist sich als geradezu prädestiniert für Opernfestspiele. (Rezension der Premiere v. 1. April 2023)

„Von der Gewalt, die alle Wesen bindet, befreit der Mensch sich, der sich überwindet“ (Goethe)

Dass sich das vordergründige Geschehen um die Kaiserin als Frau ohne Schatten jeweils um ihre Kinderlosigkeit dreht und eine Ehe für die Frau nur durch das Gebären der Nachkommen auch Erfüllung bringen kann, ist aus heutiger Sicht ein reichlich befremdliches Opernsujet. Hofmannsthal hat der Titelfigur seines Werks in der inhaltlichen Zusammenfassung eine ungewöhnlich anmutende Eigenschaft zugrunde gelegt: „Aber völlig zu den Menschen gehört die Kaiserin noch nicht, denn sie wirft keinen Schatten, und sie fühlt sich nicht Mutter: Dies ist ein und dasselbe, Zeichen und Bezeichnetes.“ Dabei stellt sich die Kinder- und Schattenthematik bei genauerem Studium von Partitur und Libretto lediglich als weiteres Symbol und Ankerpunkt für weitaus tiefergehende seelisch-emotionale Hypothesen heraus: Reflexion der eigenen Bedürfnisse, Selbstfindung sowie Überwindung und damit einhergehendes Verständnis, Mitgefühl und Empathie gegenüber dem Partner / der Partnerin beziehungsweise allen Mitmenschen sind der eigentliche Kern, worum sich dieses fantasievolle Opernwerk dreht. Hofmannsthal entnahm für seine Dichtung die Grundgedanken aus diversen Werken Goethes und Mozarts, in denen sich die Figuren zur Menschwerdung erst selbst finden und anschließend überwinden müssen.

Regisseurin Lydia Steier legt den Finger in die Wunde
Festspielhaus Baden-Baden/DIE FRAU OHNE SCHATTEN/Foto @ Martin Sigmund

In der Vergangenheit versuchten mit psychologisch-inspirierten Deutungen gerade männliche Regisseure die zunächst patriarchalisch und misogyn anmutende Symbolik Hofmannsthals hinsichtlich gesellschaftlicher Stellung kinderloser Frauen zu negieren. Gerade als Regisseurin setzt Lydia Steier hingegen den Fokus auf die kontroverse weibliche Perspektive erkaufter Leihmutterschaft, Kinderwünschen, Kinderlosigkeit, Adoption und Inzest, die ja durchaus in der Frau ohne Schatten zur Sprache gebracht wird. Dies alles erzählt sie unter Zuhilfenahme einer zusätzlichen stummen Figur — eindrücklich verkörpert von Vivien Hartert — die als verbindendes Element die teilweise divergierenden Handlungsstränge herbei-fantasierend nacherlebt und mitfühlt.

Steier verlegt die Handlung zunächst in den Schlafsaal eines Frauenklosters, von welchem aus das weitere Geschehen herbeigeträumt wird. Auch die anfangs noch unmenschliche Kaiserin wird im zweiten Aufzug erst mittels eines Traumes zur Empathie und damit zur Menschlichkeit finden. Das Färber-Paar Barak und seine Frau betreiben eine Art Babymanufaktur, in welcher anonyme Frauen entmenschlicht als Gebärmaschinen für Kinder der Upperclass verkommen. Steier nutzt zahlreiche Elemente der Strauss-Oper, erzählt in ihrer Inszenierung jedoch ganz eigene, aufwühlende Schicksale einer zeitlos fremden, aber doch irgendwie berührend authentischen Gesellschaft, in derer die Emanzipationsbewegung noch am Anfang steht. Steier weiß das sich ständig bewegende Bühnenbild von Paul Zoller — ergänzt durch knallig-bunte Kostüme von Katharina Schlipf — mit packender Personenregie zu bespielen und schafft auf der großen Bühne des Festspielhauses Baden-Baden eine Welt, die im ständigen Wechsel unterhält, berührt und zugleich zum Mitfühlen einlädt.

Endlich wieder eine Strauss-Oper mit Kirill Petrenko am Pult
Kirill Petrenko © Wolfgang Hösl

Der wahre Grund für einen Besuch der Osterfestspiele Baden-Baden ist selten die Regiearbeit, sondern sind die Berliner Philharmoniker unter ihrem Chefdirigenten Kirill Petrenko! Dieser konzentrierte sich in den letzten Jahren zunächst auf das symphonische Repertoire sowie teils unbekanntere Tschaikowski-Opern. Welch Freude, Petrenko endlich wieder mit Richard Strauss hören zu dürfen. Strauss’ Opern bestechen gerade im Vergleich zu den Werken Wagners oder Beethovens durch eine gewisse Künstlichkeit in ihrer Instrumentation. Freilich beinhaltet auch die Frau ohne Schatten mitreißende und feingliedrig auskomponierte Musik, aber ihr mangelt es doch an der übermenschlichen oder endvisionären Tiefe vergleichbarer Romantiker. Setzt ein Dirigent bei Strauss-Opern zu viel auf Emotionen, wird es schnell geschmacklos. Dessen schien sich auch Petrenko bewusst zu sein, er überzeugte in stets raschem Grundtempo mit einer bis auf das kleinste Detail ausgefeilten und geschliffenen, jedoch nicht in die Tiefe gehenden, Orchesterführung, welche die klangvollen Effekte der Partitur offenlegte: Größtmögliche Durchhörbarkeit und schlagartige, zugleich vortrefflich ausbalancierte Lautstärkeänderungen setzten den Rahmen für die individuelle Virtuosität seiner Orchestermusiker*innen.

Solistenquintett mit überragender Kaiserin
Festspielhaus Baden-Baden/DIE FRAU OHNE SCHATTEN/Foto @ Martin Sigmund

Wolfgang Koch verkörperte zuletzt in jeder großen Neuproduktion der Frau ohne Schatten die Partie des Barak. Auch diesmal gab er mit seiner entspannten Baritonstimme und deutlicher Phrasierung einen warmen, charakterstarken Färber. Ähnlich auch Michaela Schuster, welche seit einem Vierteljahrhundert weltweit als exemplarische Personifizierung der diabolischen Figur der Amme geschätzt wird. Obgleich ihre markerschütternde Deklamation und einvernehmende Darstellung zunehmend exzentrischer werden, kann keine andere Mezzo-Sopranistin dieser Sängerdarstellerin so schnell das Wasser reichen. Miina-Liisa Värelä sorgte in der Partie der Färberin an der Wiener- als auch der Bayerischen Staatsoper als Einspringerin für Aufsehen und durfte nun endlich ihre Rolle einmal als originärer Teil der Besetzung auf der großen Opernbühne verkörpern. Faszinierend, dass Värelä gar nicht im wagner’schen Sinne hochdramatisch klang, sie lyrische Zwischentöne gestaltete, dennoch über das notwendige Register und die Durchschlagskraft dieser Partie verfügte. Väreläs Färberin verkam dadurch nicht zum keifenden Weibsbild, sondern war eine selbstbewusst-sympathische Frau, mit warmer — von Gefühlen und Leidenschaften gefüllter — Stimmfarbe.

Der kürzlich als Siegfried an der Deutschen Oper Berlin schlagartig sich zum neuen Star-Heldentenor emporgesungene Clay Hilley verfügte zwar über die notwendigen Spitzentöne der mörderisch-anspruchsvollen Partie des Kaisers. Es mag seiner Premierennervosität mit Rollendebüt und den von der Regisseurin geforderten Tanzeinlagen geschuldet sein, dass Hilley etwas wackelig klang, er sich freisingen musste, und so seinem Kaiser zunächst nur bedingt Ausdruck und Tiefe verleihen konnte.

Festspielhaus Baden-Baden/DIE FRAU OHNE SCHATTEN/Foto @ Monika Rittershaus

Über allen Stimmen schwebte jedoch Elza van den Heever, welche in der Partie der Kaiserin in dieser Aufführung den Glanz der ganz großer Opernmomente schuf. Nachdem sie kürzlich als Salome an der Opéra national de Paris und Chrysothemis debütierte, bewies sie nun mit ihrem szenischen Kaiserin-Debüt Potential für eine ganz groß Karriere als Strauss-Sopranistin: Van den Heevers Stimme scheint direkt aus dem Reich der Feenwelt zu kommen, klangvoll, farbenprächtig und warm-glühend, dabei mühelos und mit Koloraturen verziert, sang sie sich ins Herz des Festspielpublikums.

Fazit: Für Strauss-Liebhaber und FroSch-Jäger das Nonplusultra

Lydia Steiers Inszenierung der Frau ohne Schatten faszinierte sofort, bedarf aber mehrmaliger Vorstellungsbesuche, um auch die von ihr im dritten Aufzug dominierende religiöse Symbolik zu deuten. Eine TV-Übertragung auf 3sat am 15. April 2023 sollte nicht verpasst werden! Es bleibt zu hoffen, dass Steiers aufwändige Regiearbeit nach diesen drei Festspielvorstellungen nicht schon archiviert wird, sondern als Koproduktion an einem anderen Opernhaus auch einem größeren Publikum zugänglich gemacht wird. Mindestens eine CD-Veröffentlichung bleibt aufgrund Petrenkos elektrisierendem Dirigat und der Gesamtleistung der Berliner Philharmoniker sowie der sensationellen Kaiserin von Elza van den Heever zu wünschen.

 

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