„[Niemand] hat das Recht, den Krieg zu vergessen.“ – Wiederaufnahme von Weinbergs Oper „Die Passagierin“ an der Bayerischen Staatsoper

Bayer. Staatsoper/DIE PASSAGIERIN 2024/Sybille Maria Dordel/Foto © Geoffroy Schied

Neun Monate nach der Premiere der Münchener Neuproduktion kehrt „Die Passagierin“ von Mieczysław Weinberg an die Bayerische Staatsoper zurück, und damit ein Werk, das in seiner Aussagekraft ein Plädoyer für das anhaltende Gedenken und die immer wieder neu zu stellende Frage nach dem Umgang mit Schuld ist. Als solches zeigt es die tiefsten Abgründe der Menschheit auf, ohne in diesen zu verbleiben. Stattdessen eröffnet es in Form der Kunst einen Blick nach vorne, der den erinnernden Blick in die Vergangenheit nie verschließt, und erweist sich so als wahre Gedenkkomposition mit bleibender Bedeutung. (Aufführung am 15. November 2024)

 

 

 

Von der Unfähigkeit und dem Unwillen, Schuld anzuerkennen

Grundlage der Oper ist die autobiographische Erzählung „Pasażerka“ von Sofia Posmysz, die selbst das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz überlebte und in mehreren Werken ihre Erfahrungen verarbeitete. „Pasażerka“ wurde Weinberg von Schostakowitsch als Stoff für eine Oper vorgeschlagen, der sodann mit dem Librettisten Alexander Medwedew das Bühnenwerk schuf. Die Handlung setzt im Jahr 1959/60 an. Ein Transatlantikschiff soll Lisa und ihren Mann Walter nach Südamerika führen, um so auch räumlich die deutsche Vergangenheit hinter sich zu lassen. Sie träumen von einem Neubeginn, einer unbeschwerten Zukunft – dem großen Vergessen. Doch diese gefährliche Illusion gerät ins Wanken, als Lisa in einer Passagierin des Schiffes Marta, eine ehemalige Inhaftierte des Vernichtungslagers Auschwitz, in dem sie selbst als Aufseherin der SS tätig war, zu erkennen glaubt. Diese Begegnung eröffnet Lisa den bewusst verschlossenen Raum der Erinnerung an ihre eigenen Verbrechen, immer tiefer wird sie in ihn und die Geschehnisse im Lager hineingezogen. Walter, der bisher nichts von der SS-Vergangenheit seiner Frau wusste und darin vorrangig eine Gefährdung seines Status als rechtschaffenen deutschen Beamten sieht, fordert sie auf, ihm alles darüber zu erzählen, doch nur nach und nach ist Lisa dazu bereit. Die Realität des Schiffes vermengt sich mit der grausamen Realität von Auschwitz, Lisa vernimmt die Stimme der Oberaufseherin, auch jene der Häftlinge, die die Unmenschlichkeit des Lagers anklagen. Doch es sind vor allem ihre eigenen Taten, denen sich Lisa nicht stellen will, weiterhin hält sie am Vergessen und Verleugnen fest, sagt gar, sie sei stolz, ihre Pflicht getan zu haben – bis es durch die immer stärker werdenden Erinnerungen an Marta unvermeidbar wird, sich mit ihrer eigenen Schuld zu konfrontieren. Lisa wählte Marta, um aus ihr durch perfiden Machtmissbrauch eine gehörige Schutzbefohlene zu machen. Sie ermöglichte ihr ein Rendez-vous mit ihrem Verlobten Tadeusz, bei dem sie jedoch mehr ihre eigenen Lüste zu befriedigen schien und das Paar schikanierte. Als Lisa den beiden anbot, gegen besonderen Gehorsam weitere Treffen zu gewähren, lehnte Tadeusz ab, um einen letzten Rest an Selbstbestimmung zu bewahren, auch um den Preis, seine Geliebte nicht wiedersehen zu können.

 

Eine Darstellung des Nicht-Darstellbaren…

Bayer. Staatsoper/DIE PASSAGIERIN 2024/Foto © Geoffroy Schied

Das Werk stellt das Publikum vor eine große innere Schwierigkeit, da es aus Sicht einer Täterin erzählt wird, die in ihrer Traumatisierung angesichts der verübten Verbrechen dem Mitleid ähnliche Gefühle wecken mag, die der gleichzeitigen Empfindung von Abscheu und Wut diskrepant gegenüberstehen. Die gesamte Handlung entfaltet sich aus der Erinnerung Lisas und selbst, als sie gegen ihren Willen von dieser übermannt wird, ist es ihre Figur, die den Anfangs- und Mittelpunkt der Oper bildet. Dies eröffnet auch für die Regie Fragen nach der Darstellbarkeit, der Erlaubtheit von Darstellungen realer, grausamer Ereignisse, die zwar fiktionalisiert, doch basierend auf autobiographischen Erlebnissen erzählt werden. Tobias Kratzer und Rainer Sellmaier wählen für ihre Inszenierung eine Darstellungsform, die durch Verwendung klarer Symbole einen Bezug zum realen Ort des Geschehens herstellt, dabei aber bewusst auf eine realistische Annäherung an das Vernichtungslager Auschwitz verzichtet. Die Inszenierung wird durchzogen von Bildern, die durch Gleichförmigkeit und ihre Unendlichkeit ausstrahlende Wirkung ein beklemmendes Gefühl von Leere, zugleich aber auch des Bedrohlichen und Überwältigenden wecken. Im ersten Akt werden in diesem Sinne die Balkone eines Schiffes in naturalistischer Größe gezeigt. Immer wieder treten Personen aus ihren Kabinen und werden in der Erinnerung Lisas ohne Wechsel des Bildes zu ihren Mittätern und Opfern in Auschwitz. Diese Ineinanderführung der Zeitebenen wird im zweiten Akt noch verdichtet, als die Bühne nun mit unendlich scheinenden Tischreihen bestellt ist, die als Festsaal der Schiffsgesellschaft, zugleich als Schauplatz der Geschehnisse in Auschwitz dienen. Realität und Erinnerung verschwimmen, die bleibende Präsenz der Gewalttaten wird eindrücklich zum Ausdruck gebracht. Die Schiffskabinen wie die Festtische lösen in ihrer schlichten, klaren Bildsprache Beklemmung aus und rufen Assoziationen mit Baracken, der zwanghaften Ordnung des Vernichtungssystems Auschwitz hervor, aber auch die durch die Ermordung von mehreren Millionen Menschen bleibende Leere unmittelbar in Erinnerung. Das gesamte Stück über präsent ist das Meer als bedrohliche Größe, gleichzeitig aber in seiner natürlichen, ruhigen, nicht stillen, Macht. Diese Wirkung vermag es, den unmittelbaren Handlungsbezug zu übersteigen und das Meer zum Symbol des existenziellen Untertauchens, des Verschweigens und Verdrängens, zugleich aber der Sehnsucht und der anhaltenden Ruhe werden zu lassen. Wenn beim Epilog Martas Stimme vom stillen Fluss, der Rückkehr in die Heimat kündet und zugleich die Mahnung, die Erinnerung nie zum Verstummen zu bringen, in die zeitliche wie örtliche Unendlichkeit schickt, wird diese ambivalente Ursymbolik des Meeres auf besondere Weise spürbar.

 

…und die bleibende Leere

Es ist Kratzer gelungen, den Kern des Geschehens darzustellen, ohne zu sehr der Konkretion und damit der Gefahr zu verfallen, durch äußeren Realismus an Symbolkraft und Tiefe einzubüßen. Auch durch die dramaturgische Führung der Figuren und die Gestaltung der Kostüme werden in dieser Inszenierung die beiden Zeit- und Handlungsebenen vereint und dadurch weitere Bedeutungshorizonte eröffnet. Indem die Passagiere des Schiffes Kostüm und Position beibehalten, auch wenn sie in der Erinnerung zu Aufsehern in Auschwitz werden, wird der Gedanke angeregt, dass es potenziell dieselben Menschen sind, die sich damals als Mittäter schuldig machten und die nun ihre Vergangenheit lieber verdrängen wollen, als sich der Gerechtigkeit zu stellen. So findet eine Form der Egalisierung statt, die an Denkansätze wie der Banalität des Bösen anknüpft. Auch das gleichförmige Aussehen der Häftlinge führt über die Darstellung der das Individuum vernichtenden Realität des Lagers hinaus zu einer tieferen Bedeutungsschicht, die durch Andeutung des und der Nichtsichtbaren die unzähligen weiteren Opfer sichtbar macht. Es ist die Stärke dieser Inszenierung, zwar eine konkrete Geschichte von wenigen Menschen zu erzählen, dabei aber in der Offenheit und Öffnung der Darstellung die gesamte Realität anzusprechen. Zugleich vermag sie es, Fragen aufzuwerfen, ohne sie durch zu konkretisierende und dadurch in ihrer Tragweite allzu sehr einschränkende Ausdeutungen letztgültig zu beantworten. Besonders jene nach dem Verhältnis von Tätern und Opfern, dem Umgang mit eigener und fremder Schuld, aber auch die Frage, ob es möglich und erlaubt sein könne, mit einer Täterin mitzufühlen, werden dem Publikum als Denkanstoß über den Opernbesuch hinaus aufgegeben.

 

Erlösung wird ihr nicht zuteil

Eine Ergänzung in Kratzers Inszenierung stellt die Eröffnung einer dritten Zeitebene dar: Während des gesamten ersten Aktes wird die Figur der Lisa durch eine ältere Version ihrer selbst (überzeugend gespielt von Sibylle Maria Dordel) gedoppelt und dadurch die heutige Zeit unmittelbar in das Stück geholt. Diese Öffnung in die bleibende Gegenwart ist bereits im Epilog des Werks angelegt, wird aber durch die gealterte Lisa, die nun die doppelte Erinnerung durchlebt, hinsichtlich des Umgangs mit ihrer Schuld zugespitzt. Einige Jahrzehnte später erscheint Lisa zwar schockierter angesichts ihrer eigenen Unrechtstaten, doch eine wahre Konfrontation ist ihr noch immer nicht möglich. Aus überwältigendem Schuldbewusstsein oder wegen der Unerträglichkeit der sie nach wie vor plagenden Erinnerungen ohne wahres Eingeständnis ihrer Schuld stürzt sie sich in das Meer.

 

Die Macht der Sprache(n)

Bayer. Staatsoper/DIE PASSAGIERIN 2024/Jacques Imbrallo, Tanja Ariane Baumgartner/Foto © Geoffroy Schied

Eine weitere Herausforderung der Oper besteht in der Grundentscheidung, wie werkgetreu sie zur Aufführung gelangen und welches Werk es sein soll, dem diese Treue gilt, schließlich lassen sich hinsichtlich einiger Akzente, wie der Betonung der polnischen Identität Martas oder der Menschlichkeit der Darstellung Lisas, Unterschiede zwischen Posmysz’ Erzählung und Medwedews Libretto erkennen. In dieser Produktion wurde zugunsten weitreichender Änderungen des Librettos und damit womöglich einer erneuten Annäherung an die literarische Vorlage entschieden. Während eine opernwerkgetreue Aufführung auf Russisch stattzufinden hätte, wird in München bewusst die Kraft der Vielsprachigkeit genutzt und so ein starker Kontrast zwischen Deutsch als Lagersprache und dem Polnisch Martas und Tadeusz’ wie des Chors geschaffen, der als moralische Instanz des allgegenwärtigen Todes in Auschwitz erinnert. Martas Mithäftlinge singen auf Tschechisch, Jiddisch oder Französisch und geben so nicht nur auf der Opernbühne selten bis gar nicht zu vernehmenden Sprachen, sondern auch der Realität des Lagers Gehör. Es fällt jedoch auf, dass sämtliche Spuren des Russischen aus Kratzers Produktion gestrichen wurden, so auch lange Passagen des Librettos und der Musik, die gesamte Figur der Russin Katja, sogar die Nennung Medwedews im Programmheft. Dies mag neben einer im Werk selbst gründenden Entscheidung, deren Konsequenzen für dessen Bedeutung und Wirkung durchaus zu begrüßen sind, auch eine politische sein, die, um die bleibend wichtige Handlung der Oper nicht durch eine aktuell kaum unkommentiert zu lassende Einbindung klarer, gar pro-russischer Aspekte zu überdecken, nachvollziehbar ist, jedoch in einer Zuspitzung auch die Frage aufwerfen ließe, ob damit nicht in anderem Kontext gegen die Aussage des Epilogs gehandelt wird.

 

Die Musik als Kraft des radikalen Widerstands

Besonders ein Element fällt ins Auge, das im Libretto eine Hinzufügung darstellt und dadurch den dramaturgischen, auch psychologisch-emotionalen Höhepunkt der Oper schafft: Tadeusz wird zum Musiker. Er ist Geiger, dessen Talent in Auschwitz missbraucht wird, indem man von ihm verlangt, den Lieblingswalzer des Kommandanten zu spielen. Anstatt die Kunst und damit sich selbst zu verraten, verwandelt er das Konzert in einen Moment des Aufschreis gegen die Ungerechtigkeit und Brutalität, letztlich gegen das, was in Worten nicht angemessen, sondern nur in der wortlosen Aussagekraft der Musik auf unmittelbar berührende Weise zum Ausdruck gebracht werden kann. Tadeusz beginnt statt des Walzers die Chaconne in d-Moll von J. S. Bach zu spielen, im Wissen, dass ihn dies das Leben kosten wird. Damit findet, wie Dmitri Schostakowitsch in seinem Einleitungstext zur ersten Ausgabe des Klavierauszugs der Oper schreibt, der Aspekt der Kunst als einer das Sprachliche und Fassbare übersteigenden Macht Einzug in das Werk – ein Aspekt, der auch in Weinbergs Oper „Der Idiot“ durch Fürst Myschkins Überzeugung, „die Welt wird durch Schönheit erlöst“, präsent ist. Die tragische Kraft dieser Szene wird in Kratzers Inszenierung spürbar, sie wird zu jenem Moment, an dem die beiden Zeitebenen von Auschwitz und der Schiffsreise im Erleben Lisas aufeinandertreffen. So bezeichnet das Erklingen der Chaconne für sie in zweifacher Weise einen entscheidenden Wendepunkt: Dieser Akt des radikalen Widerstands schockiert Lisa, denn ihr selbst ist dieser fern; sie führt Befehle aus und macht sich damit wesentlich selbst schuldig. Widerstand zu üben gegen Unrecht, das einem widerfährt, aber auch gegen Unrecht, das man selbst ausübt, kennt sie nicht. So wird sie ihrer eigenen Machtlosigkeit gewahr, obwohl sie diejenige war, die im System des Lagers die Macht haben sollte – eine Machtlosigkeit sowohl gegenüber jenen, auf die sie Macht ausüben wollte, als auch gegenüber ihr selbst, die sie nun keinen Widerstand mehr gegen ihre eigene Vergangenheit leisten kann. Lisa verstummt in selbst gewähltem Schweigen, während Martas Stimme über das Meer in den Opernsaal dringt und so das beginnt, was sie einmahnt: niemals zu verstummen, um niemals zu vergessen.

 

Eine bewegende Gesamtleistung von Orchester, Dirigent und Sängern

Bayer. Staatsoper/DIE PASSAGIERIN 2024/Elena Tsallagova/Foto © Geoffroy Schied

Dass Kunst, besonders die Musik, eine das Wort übersteigende Kraft entfalten kann, wird an diesem Abend auch durch die musikalische Darbietung des Bayerischen Staatsorchesters unter der Leitung von Azim Karimov hörbar. Karimov, seit 2023 musikalischer Assistent des Generalmusikdirektors, führt Orchester und Sänger strukturiert und klar in Gestik und Gestaltung durch Weinbergs anspruchsvolle Partitur. Er zeigt ein feines Gespür für die Dramaturgie der Musik und arbeitet die darin gespiegelten Situationen und Regungen der Figuren differenziert heraus. Insgesamt setzt er in seiner Interpretation auf eine kühle, fast raue, dem Thema des Werks angemessene Härte, vermag es aber auch, in den lyrischen Momenten sanfter zu werden. Besonders erschütternd gelingt die Szene des Konzerts, in der die harten Schläge des Orchesters die Chaconne aufnehmen und schließlich zum Verstummen bringen. Karimov gelingt es zudem, das Orchester zurückzunehmen, um den gesungenen Worten, die in dieser Oper noch mehr als in den meisten von höchster Wichtigkeit sind, ausreichend Platz zu geben. Dies wird von den Sängern und Sängerinnen ebenbürtig mitgestaltet. Die Rolle der Lisa übernimmt Tanja Ariane Baumgartner, die besonders im zweiten Akt gesanglich wie darstellerisch die zerrissene Gefühlslage ihrer Figur zum Ausdruck bringt, von Selbstbeschwichtigungen im deklamierenden Stil, über maliziös-scharfe Momente, bis hin zu Ausbrüchen der Verzweiflung. Charles Wokeman verkörpert Walter perfekt als deutschen Diplomaten, leicht bieder und stets gemessen. Zu Beginn gelingen ihm die trockenen, wenig melodiösen Deklamationen etwas zu steif, doch ließe sich dies auch als bewusste Interpretation verstehen. Jacques Imbrallo als Tadeusz ist leidenschaftlich und emotional, mit eindringlichem Klang und berührender Zartheit in der Begegnung mit Marta. Diese wird gesungen von Elena Tsallagova, die mit ihrer strahlenden Stimme und gestalterischen Vielfalt sowohl die Stärke als auch den Schmerz Martas hören und sehen lässt. Neben dem Epilog zählt vor allem das Lied mit Versen von Sándor Petöfi zu den bewegendsten Momenten des Abends. Ebenso berührend im existenziellen Schwanken zwischen liebevoller Zuneigung und Hass, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit sind Xenia Puskarz Thomas, Lotte Betts-Dean, Noa Beinart, Larissa Diadkova und Evgeniya Sotnikova als Mithäftlinge. Zu erwähnen ist außerdem Dimiter Ivanov als Sologeiger, der die Chaconne angemessen kühl und gerade dadurch äußerst bewegend spielte. Des Weiteren sei das umfangreiche und anspruchsvolle Programmheft angesprochen, das neben dem vollständigen Libretto in mehrsprachiger Fassung zahlreiche Texte zum Werk und seinen Kontexten beinhaltet. Ein so fundiert erarbeitetes Begleitheft ist eine Seltenheit.

 

Die bleibende Bedeutung des Hörens und Erinnerns

Als Weinberg einst gegenüber Medwedew sein tiefes Bedauern darüber äußerte, sein für ihn zentralstes Werk nie gehört und gesehen haben zu können, versprach ihm dieser, im Falle einer Aufführung doppelt zu hören, für sich selbst und für Weinberg. Dies kann aus heutiger Sicht weitergeführt werden. Die Oper ist dreifach, ja mehrfach zu hören: für Weinberg, Medwedew, für Sofia Posmysz, für alle Opfer der Verfolgung und Vernichtung des NS-Regimes, doch auch für alle Täter und Täterinnen, die sich nie mit ihrer Schuld konfrontieren wollten oder konnten, für jene, die ihr Leben lang am Recht ihrer Taten festhielten und ihre Verbrechen leugneten. Womöglich könnten darin die Kraft und ein Verständnis des Vergebens Gottes selbst seiner Peiniger zu finden sein: als ein Vergeben, das kein Vergessen und Verzeihen als Akzeptanz der Taten meint, sondern ein beständiges Erinnern, eine Zu-Mutung für jene ist, die menschlich zu schwach waren, sich mit den eigenen Abgründen und Verbrechen zu konfrontieren – ein (Auf-)Richten im Sinne des Rechts und der Pflicht aller, nicht zu verstummen, sondern weiter zu erinnern und zu erzählen, was geschehen ist. Weinbergs Oper besitzt eine Kraft wie wenige andere musikalische Werke, diesem Schweigen durch die das Ausdrückbare übersteigende Größe der Kunst entgegen zu wirken und zu hören für die, die selbst nicht mehr hören können, und jene, die sich zu hören verweigert haben und immer noch verweigern. Diese Kraft konnte sich auch in München auf erschütternde Weise entfalten und damit, so ist zu hoffen, in ihrer Aussage über den Opernsaal hinaus in die Welt getragen werden.

 

  • Rezension von Elena Deinhammer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Bayerische Staatsoper / Stückeseite
  • Titelfoto: Bayer. Staatsoper/DIE PASSAGIERIN 2024/Tanja Ariane Baumgartner/Foto © Geoffroy Schied
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