Mulhouse: „Don Giovanni“ als Performance-Künstler: Brutal, radikal, authentisch und nackt

Opéra national du Rhin/DON GIOVANNI/ Foto @ Klara Beck

Splitternackt liegt eine junge Frau in einer Badewanne auf dem Vorplatz der Filature de Mulhouse, der zweiten Spielstätte der französischen Opéra National du Rhin. Neben der Wanne sind Stühle und Tische aufgestellt und beschriftet mit der zentralen Botschaft des Komturs „a cenar teco m’invitasti“ – „Du hast mich eingeladen, mit dir zu speisen, und ich bin gekommen“. Dieser Don Giovanni ist keine klassische Inszenierung, sondern unter Zuhilfenahme vermeintlicher Selbstverletzung der Künstler als unmittelbare Präsenz ein Exempel zeitgenössischen Theaters in seiner extremsten Form! Zu Beginn der Vorstellung wurde das Publikum mehrsprachig gewarnt, das Experiment dürfe man jederzeit verlassen. (Vorstellung am 7. Juli 2019, Mulhouse

 

Ein Teil der Zuschauer wird auf die offene, dunkle Bühne geführt und darf aktiv am Geschehen teilnehmen. In der Inszenierung von Marie-Ève Signeyrole gibt es kein Bühnenbild, lediglich einige Stühle, ein Videobildschirm, sowie ein Podest mit einer Bar im Hintergrund illustrieren die Szenerie.

In der Bühnenmitte sitzt ein Künstler. Hinter ihm ist die Anweisung zu lesen:
Auf dem Tisch sind 14 Gegenstände, die man an mir, wie gewünscht, anwenden kann.
Ich bin ein Objekt. Ich übernehme die volle Verantwortung.

Opéra national du Rhin/DON GIOVANNI/ Foto @ Klara Beck

Eine Rose, ein Messer, aber auch eine Pistole liegen bereit um den Künstler zu quälen, die Gegenstände lassen augenblicklich Parallelen zu Marina Abramovićs „Rhythm 0“ erkennen. Don Giovanni steht im Fokus der Performance, nach und nach werden rückblendend auf sein Leben die von ihm verführten und geschändeten Frauen hereingeführt, unter ihnen auch Donna Anna, Donna Elvira und Zerlina. Sie alle erzählen ihre Geschichte und haben nun die Möglichkeit, das Blatt zu wenden und sich an Don Giovanni zu rächen. Don Giovanni wird ganz und gar objektifiziert, geradezu degradiert. Er ist ihnen wehrlos ausgeliefert, die Machtverhältnisse erscheinen zunächst umgekehrt, und gerade dadurch wird es für alle Beteiligten im Raum ungemütlich – die Situation könnte jederzeit eskalieren!

Dennoch scheint dieser Mann nichts von seiner Anziehungskraft verloren zu haben. Die Reaktionen der Frauen könnten unterschiedlicher nicht ausfallen: Donna Anna schlitzt sich in der Situation vor Überforderung die Pulsadern auf, sie verletzt sich selbst und kann diesem „galantuomo“ keine Schmerzen zufügen. Donna Elvira hingegen verfällt ihm erneut, auch sie verzichtet auf Gewaltanwendungen.

Die Performance wird durch Leporello als Moderator immer wieder unterbrochen, er ruft weitere Zuschauer auf die Bühne und radikalisiert das Experiment. Die Regisseurin Signeyrole geht in ihrer drastischen Darstellung der Oper weiter, als es ein Skandalregisseur wie Calixto Bieito oder Peter Konwitschny je gewagt hätte: In tiefem Voyeurismus wird das Publikum elementarer Teil der Performance, und man weiß als Zuschauer nicht, was real ist und wo die Fiktion der Opernvorstellung beginnt. Ist der Sitznachbar ein gewöhnlicher Zuschauer oder doch ein instruierter Statist, der in die Performance einzugreifen droht? Sehen wir Theaterblut oder findet auf der Bühne gar eine echte Selbstverstümmelung statt? Die Situation ist beklommen, die Regie überschreitet bestehende Grenzen und der Zuschauer wird von der Unsicherheit ergriffen.

Trotz des drastischen Geschehens bleibt Signeyrole in der Charakterdarstellung der Frauen stets konkret und tiefgründig, nichts wirkt trivial. Sie nutzt die Gewalt als Stilmittel nicht zur Provokation, sondern durchdringt mit wenigen eindringlich-expliziten Gestiken die Komplexität aller Figuren des „bestraften Wüstlings“. Innere Zerrissenheit, Sehnsüchte, aber auch Wünsche und Widersprüche der Personenkonstellationen untereinander rückt sie in den Kontext der Musik und des Librettos.

Herausragende Solisten vermittelten die Aktualität des Stoffes, die ihre Rollen neben sehr guter stimmlicher Gestaltung auch schauspielerisch mit Brutalität, Schamlosigkeit und Entschlossenheit darzustellen vermochten. In all der expliziten Gewaltdarstellung auf der Bühne geriet der musikalische Aspekt stellenweise in den Hintergrund. Das erstarrte Publikum ließ sich selbst nach der Champagner-Arie – sonst ein Garant für Ovationen – nicht einmal zu einem kurzen Zwischenapplaus hinreißen; zu groß war das Entsetzen der Zuschauer über die Ereignisse auf der Bühne.

Opéra national du Rhin/DON GIOVANNI/ Foto @ Klara Beck

Aus dem stimmlich sehr homogenen Solistenensemble nahm die Donna Anna von Jeanine De Bique eine besondere Stellung ein. Ihre Koloraturen schmiegten sich agil an den Klang des Orchesters heran und sie verband ihre Musikalität mit besonders drastischer Darstellung der Zerrissenheit ihrer Rolle. In der Titelrolle des Don Giovanni stand ihr gegenüber Nikolay Borchev der diesen stimmlich einfühlsam und geradezu empfindsam deutete und damit einen lyrischen Gegenpol zu seiner brachialen schauspielerischen Darstellung bot. Dieser Dualismus lies Borchevs Don Giovanni unberechenbar erscheinen. Ihm gelang es seine Persönlichkeit auf der Bühne so darzustellen, dass sie in der Unvereinbarkeit in ihrer Gesellschaft den Zuschauer stets erneut verunsicherte.

Die Regisseurin nahm dem Stoff jeglichen Witz. Don Giovanni – eigentlich ein „dramma giocoso“, ein lustiges Drama bzw. eine Opera Buffa – ließ an diesem Abend weder auf der Bühne, noch im Orchestergraben eine Spur von Heiterkeit aufkommen. Die Anarchie auf der Spielfläche fand durch das Orchester ihr solides Fundament. Andreas Spering am Pult des l’Orchestre Philharmonique de Strasbourg – sonst ein Spezialist für Alte Musik – erließ einen zutiefst dramatisch-romantischen Don Giovanni erklingen und verzichtete auf heitere Verzierungen oder Improvisationseinschübe auf dem Cembalo. Der Dirigent baute musikalisch die Spannung auf, indem er seine langsamen Tempi im dramatischen Höhepunkt leicht anzog und die Sänger selbst in der szenischen Ektase stets sicher zu führen vermochte.

Eine Opernvorstellung als Happening – „The Artist is Present“ – das Experiment glückte, die Parallelen zum Stoff des Don Giovanni wurden ausdrücklich herausgearbeitet. Das Publikum wird diese Performance so schnell nicht vergessen! Mit dieser ungewöhnlich radikalen Sichtweise auf einen Opernstoff darf man auf weitere Regiearbeiten von Marie-Ève Signeyrole auch auf deutschen Bühnen hoffen. Regelmäßig sorgt die „Opéra National du Rhin“ an ihren Spielstätten in Strasbourg, Mulhouse und Colmar mit ihren unkonventionellen Produktionen bei konstant hohem musikalischem Niveau für Furore im Feuilleton – ein Besuch lohnt sich!

 

  • Rezension von Phillip Richter / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Opéra national du Rhin /Stückeseite
  • Titelfoto: Opéra national du Rhin/DON GIOVANNI/ Foto @ Klara Beck
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