Fragmentiert und ausgetanzt: Sensationelles Lulu-Debüt von Vera-Lotte Boecker bei den Wiener Festwochen

Wiener Festwochen 2023/LULU/Foto @ Monika Rittershaus

Auch fast einhundert Jahre nach seiner Entstehung weiß der Lulu-Stoff von Alban Berg und Frank Wedekind mit seiner Thematik um sexuelle Hörigkeit, Lust und Verlangen nach wie vor zu faszinieren, zugleich aber auch das Publikum zu irritieren. Denn die Motive der handelnden Figuren als auch die Frage nach Schuld oder Moral von Lulu erscheinen auch aufgrund des fragmentarischen Werkcharakters nicht direkt plausibel und sind aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbar. Für jedes Regieteam gilt es somit als Herausforderung, diesem expressiven Werk eine adäquate Struktur zu verleihen. Als ihre erste Arbeit in diesem Gerne inszeniert die Tänzerin Marlene Monteiro Freitas die Oper als Choreografie im Rahmen der Wiener Festwochen am MusikTheater an der Wien. (Rezension der Vorstellung v. 02. Juni .2023) 

 

Das MusikTheater an der Wien im MuseumsQuartier als moderne und experimentelle Opernbühne

Mit seiner Ausweichspielstätte in der Halle E im MuseumsQuartier ist das MusikTheater an der Wien noch mehr an den Puls der Zeit gerückt. Im Zentrum des künstlerischen Szeneviertels identifiziert sich das jüngste Opernhaus der Stadt mit seinem aufgeschlossenen und sichtlich diversen Publikum. Im MuseumsQuatier findet Oper als tabuloser Diskurs und künstlerisches Happening, nicht als Museum, statt. Ein außergewöhnliches Ambiente interdisziplinärer Kunstform, welche ständig zu Neuem drängt und nicht zum Selbstzweck erstarrt, bürstet die Werke gegen den Strich. Das Publikum wird konfrontiert und eingeladen, seine Sehgewohnheiten zu hinterfragen, um so zu neuem Ausdruck zu finden. Die von Stefan Herheim geleitete Institution bildet einen scharfen, zugleich wohltuenden Kontrast zur traditionsreichen Wiener Staatsoper. In der Halle E gibt es weder Vorhang noch Orchestergraben. Das ORF Radio-Symphonieorchester Wien ist inmitten der Bühne platziert und wird  zum unmittelbaren Teil des Geschehen. Die Sänger*innen und das Tanzensemble agieren hautnah und distanzlos auf Augenhöhe zum Publikum. Die Wiener Festwochen bieten mit spartenübergreifenden Kooperationen ihren Künstler*innen eine absolute, zugleich unkonventionelle Freiheit. Diese verleiht gerade dem expressiven Werk Alban Bergs eine andersartige, restriktionsfreie Sichtweise, wie sie in dieser Form an keinem anderen Ort funktionieren kann. Die Halle E ist ein ausgefallener Bühnenraum, der durchaus mehr bietet als die eigentliche Heimatspielstätte des Ensembles, das charmante Theater an der Wien.

 

Choreografie als konsequente Verweigerung konventioneller Opernregie

Wiener Festwochen 2023/LULU/Foto @ Monika Rittershaus

Alban Bergs Lulu in der Inszenierung von Marlene Monteiro Freitas kann gar nicht als Opernregie im herkömmlichen Sinne bezeichnet werden. Denn Freitas verweigert sich sämtlichen Elemente einer dramatischen Regie- und Personenführung und zerstückelt Lulu in der fragmentarischen zweiaktigen Fassung bis zur Unkenntlichkeit. Freitas Choreografie soll hierbei als szenische Illustration der Musik wirken, wobei von einer Interpretation und gar Strukturierung des Stoffs von Wedekind jede Spur fehlt. Die durch 8 Tänzer*innen ausgeführten, avantgardistischen Tanzbewegungen, Verrenkungen und Grimassen reagieren lediglich auf musikalische Impulse und Stichworte im Libretto. Und so abstrakt und wirr diese Choreografie gerade im Rahmen der Opernästhetik auch anmutet, lässt Freitas Nicht-Deutung keine szenische Langeweile aufkommen. Vieles von ihr ist angerissen, manches sicherlich auch Zufall: Sphäre und Stimmungen der Musiksprache Bergs meint man so doch immer wieder zu erkennen oder in ihren Bewegungen gespiegelt zu sehen, ohne dass direkt eine Handlung oder zwischenmenschliche Gefühle von Liebe, Verlagen und Tod verarbeitet sind. Dieses Aufbrechen von gängiger Opernregie ist durchaus ein szenisches Ereignis. Als gelungene Lulu-Interpretation kann man Freitas Bühnensprache schwerlich verstehen. Dies ist auch gar nicht ihr Anspruch. Und doch ist man bei dieser merkwürdigen Kunstform experimentellen Musiktheaters, zusammengesetzt aus Choreografie und Zwölfton-Opernwerk, schlussendlich doch glücklich, dass eine choreografierte Fassung des dritten (von Friedrich Cerha komplettierten) Aktes erspart geblieben ist.

 

Vera-Lotte Boecker in ihrer neuen Paraderolle als Lulu

Wiener Festwochen 2023/LULU/Foto @ Monika Rittershaus

Es sollte acht Jahre dauern, bis nach Marlis Petersens Rollenabschied nun eine neue Idealverkörperung der Lulu das Licht der Opernbühne erblickt: Die im vergangenen Jahr von der Opernwelt zur „Sängerin des Jahres“ gekürte Vera-Lotte Boecker setzte mir ihrem Debüt als Lulu stante pede neue Maßstäbe, gleich als ob ihr Alban Berg die Rolle auf den Leib komponierte. Mit ihrer sinnlich-mesmerisierenden Sopranstimme wusste sie in klar-klingenden Koloraturen bei sauberer Diktion jeder Facette dieser schwer-greifbaren Opernfigur Ausdruck zu verleihen. Innerhalb weniger Takte changierte sie zwischen gebrochener, mitleiderregender Frauengestalt und kühl-verführerischer, von der Gesellschaft angehimmelter Dame der Unnahbarkeit. Mit eindrücklicher, nie überzeichneter, stellenweise gleichgültig wie faszinierender Mimik zog Vera-Lotte Boecker alle in den Bann: Diese Lulu betörte nicht nur Dr. Schön und die Gräfin Geschwitz, sondern verführte auch das ihr an den Lippen klebende und sogleich zu Füßen liegende Publikum.

Die Mit- und Gegenspieler*innen von Lulu waren in dieser Produktion durch besonders Charakterstarke Darsteller*innen geprägt, deren szenisches Agieren vor dem Orchester besonders nachdrücklich wirkte: Bo Skovhus, der sich als Bühnentier in der Partie des Dr. Schön mimisch und gestisch mit jeder Szene steigerte und so seine Figur  erlebbar werden lies. Skovhus feste Baritonstimme traf ins Mark, seine Deklamation war von größtmöglicher Intensität. Edgaras Montvidas zeichnete einen differenzierten Alwa, der sich des möglichen Scheiterns mit Lulu stets bewusst blieb, und doch nicht von ihr loslassen konnte. Montvidas gestalte mit sehr farbenreicher Tenorstimme das mitunter intimste Rollenporträt des Abends.

Abgerundet wurde das Ensemble durch die beiden Opernlegenden Anne-Sofie von Otter als Gräfin Geschwitz und Kurt Rydl als Schigolch, bei denen jede Silbe ihres Gesangsvortrags vor Bühnenerfahrung und Intensität nur so strotzte.

 

Bei Dirigent Maxime Pascal erklingt die Leidenschaft in der Zwölftontechnik

Maxime Pascal / Foto © Meng Phu

Während Freitas Regie-Choreografie stets abstrahiert, dabei doch insgesamt  zu verkopft wirkt, ließ  am Pult des ORF Radio-Symphonieorchester Wien der junge Dirigent Maxime Pascal das ganz große musikalische Drama entstehen. Unter seiner Leitung erklang das auch für heutige Hörgewohnheiten schwer zugängliche Prinzip der Zwölftonreihen gar nicht so atonal wie befürchtet. Pascal verwandelte in seinem klaren Dirigat die komplexe Partitur in atmosphärische Wirkung und ließ so die Sinnlichkeit und das Rauschhafte von Bergs Lulu erlebbar werden.

Fazit: Aufgrund der starken Sänger*innen ist das Experiment einer choreografierten Lulu durchaus sehenswert gewesen. Das noch ausstehende Lulu-Debüt von Vera-Lotte Boecker in der umfangreicheren dreiaktigen Fassung wird schon jetzt erwartet!

 

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