
Gastartikel der Opern- und Konzertsängerin Martina Hümmer über die vieldiskutierte Systemrelevanz von Kunst in der Corona-Krise
Seit vielen Wochen leben die Menschen weltweit mit der Corona-Pandemie. Sie hat uns fest im Griff und verändert das Leben radikal. Nun kehrt das gesellschaftliche Leben vielerorts langsam zurück und es gibt immer mehr Lockerungen in fast allen Bereichen. Doch für Berufssänger sind die Perspektiven eher schlecht, denn das Ansteckungsrisiko durch Tröpfchen oder Aerosole wird von Fachleuten als sehr hoch eingeschätzt.
Für MusikerInnen gilt derzeit ein „Staatliches Berufsverbot“, Kulturschaffende hat es sehr hart getroffen. Das Kulturleben befindet sich in einer Zwangspause und steht still. Nach der 1000-Personen-Regelung folgte Schlag auf Schlag eine bundesweite Einstellung des Spielbetriebs, Theater und Opernhäuser sind seither geschlossen, alle Konzerte bis auf weiteres abgesagt. Als Künstlerin reflektiere ich diese Zeit und die Auswirkung auf unser aller Leben sehr eingehend. Aus emotionaler Sicht fällt es mir schwer, diese unwirkliche, fordernde Zeit und diese nie dagewesene Situation zu beschreiben, mit der wir umzugehen alle erst lernen müssen.

Ich befand mich inmitten der Endprobenphase, als mich der schreckliche Anruf erreichte, mein bevorstehendes Konzert in Kassel sei abgesagt. Das hat mich zunächst einmal sehr getroffen und traurig gemacht, denn man probt seit Monaten, beschäftigt sich intensiv mit der Musik und darf das Werk dann nicht aufführen. Es folgte daraufhin eine ganze Absagewelle, darunter auch ein bedeutendes Werk, welches erstmals wieder nach 450 Jahren aufgeführt werden sollte, das bekannte Leipziger Bachfest sowie Opernaufführungen und Festspiele im In –und Ausland. Viele meiner freischaffenden KollegInnen stehen vor existentiellen Schwierigkeiten. Planung ist zudem gerade überhaupt nicht möglich, weil man nicht weiß, wann wieder gesungen werden darf und wie es weitergeht. Die Absage aller Konzerte ist wirklich schmerzhaft, aber in dieser Situation unumgänglich, denn für mich haben der Schutz von Leben und die Gesundheit oberste Priorität. Menschen, die jetzt ihre eigenen Interessen und Egoismen zurücksetzen, kollegial und solidarisch gemäß der nötigen Vorgaben unter Beachtung von Vorsicht und Nächstenliebe die Würde eines jeden Menschenleben achten und mit ihrem Verhalten Leben retten, sind für mich die Helden dieser Zeit.
Aktuell rückt die diskutierte Infektionsgefährdung durch Aerosole bei der Verbreitung des Virus immer mehr in den Fokus.
Als Mitglied im Bund Deutscher Gesangspädagogen bin ich mit vielen Kollegen über aktuelle Studien im Austausch und informiert, wann und wie wir unseren Beruf wieder ausüben können.
Der gesungene Ton entsteht durch das Zusammenspiel von Atmung, Phonation und Artikulation. Auf allen drei Ebenen werden Aerosole (Schwebepartikel in der Luft) und Tröpfchen erzeugt, die wiederum in der Ausatemluft mit den ansteckenden Viruspartikeln für lange Zeit im Raum schweben und ‚wandern‘ können. Gerade beim Singen atme man tief ein, wodurch die direkte Lungenbesiedelung mit einer höheren Viruskonzentration um ein Vielfaches gefährlicher sei. Da helfe weder Abstand noch eine Plexiglaswand zwischen den Musizierenden.

Zunächst werden beim Singen andere Menschen aus den vorgenannten Gründen gefährdet. Wird man womöglich als Sänger selbst angesteckt, kann die Lunge während der COVID-19-Erkrankung massiv angegriffen werden, was sich bei vielen Genesenen als Spätfolge durch eine reduzierte Lungenfunktion zeigt und für den Sänger selbstverständlich sehr schlecht ist.
Natürlich kann man auch nicht mit einem Mund-Nasen-Schutz singen. Operngesang ist Hochleistungssport, ebenso würde niemand einen Marathon mit Mundschutz laufen.
Home-Office zwischen Klavier und Natur
Die Welt ist gerade sehr turbulent für mich, weil niemand weiß, wie es weiter geht, zugleich aber still und friedlich. Ich habe das große Glück und bin dankbar, derzeit daheim in meinem Heimatort bei meiner Familie zu sein. Da ich sonst aufgrund meines Berufes sehr viel unterwegs bin, tut diese Zwangsruhe der Stimme gut, sie kann sich erholen und neue Kraft schöpfen. Langeweile kommt nicht auf, denn es gibt immer viel zu tun. Ich kann ungestört im Haus üben oder verlege mein Home-Office einfach in den Garten oder in die wunderbare Natur der sogenannten Heiligen Länder. Das ist nicht der schlechteste Ort, sich der Musik zu widmen und neues Repertoire sowie Partien einzustudieren und dabei dem Frühling zu lauschen. Auch habe ich einige Male allein in unserer wunderschönen Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt gesungen. Manchmal kamen ein paar Leute dazu, lauschten, und ich konnte ihnen eine Freude in dieser schweren Zeit machen. Es gab gleich ein Gefühl von Gemeinsamkeit, trotz des Abstandes.
Als Sängerin ist man es auch gewöhnt, stundenlang alleine mit sich und seinem Instrument, dem eigenen Körper, zu arbeiten. Wir Musiker haben da einen unglaublich kostbaren Schatz. Wir tragen die Musik im Herzen und dürfen in andere Welten und Wirklichkeiten eintauchen. Natürlich fehlt die Bühne, denn als Künstler muss man sich künstlerisch ausdrücken, um sich lebendig zu spüren. Meine Arbeit ist in dieser Hinsicht kein Job, sondern ein Grundbedürfnis, mein Leben.
Da auch der Gesangsunterricht in der derzeitigen Situation nicht stattfindet, betreue ich meine Schüler via Video-Chat, der jedoch den üblichen Präsenzunterricht in keiner Weise ersetzen kann. Es freut mich jedoch, trotz der Krise damit ein wenig Gutes sowie positive Energie weitergeben zu können. Im Mittelpunkt meiner Arbeit als Künstlerin und Pädagogin steht der singende Mensch, in dem ich ein Höchstmaß an Authentizität und Ausdruck entzünden möchte, was jedoch aufgrund fehlender Einschätzung und Beurteilung von Klang sowie muskulärer Abläufe auf sozialer Distanz schwer möglich ist. Schlechter Gesangsunterricht ist Körperverletzung und kann irreparable Folgen nach sich ziehen.
Ständige Verfügbarkeit
Ein kleines Virus zeigt uns, dass wir die Welt nicht so unter Kontrolle haben, wie wir das gerne hätten oder oft auch von uns erwartet wird. Die Welt legt gerade eine Vollbremsung hin, musikalisch ausgedrückt eine Generalpause (Fermate). In der Musik gibt es „Corona“ schon länger.
In Johann Gottfried Walthers „Musicalisches Lexicon“ von 1732, das erste Musiklexikon in deutscher Sprache, ist Corona der italienische Ausdruck für das musikalische Zeichen der Fermate, was „allgemeine Stille oder eine allgemeine Pause“ bedeutet. Vielleicht ist es gerade in schnellen Zeiten, in denen sich alles ständig verändert, wichtig, einmal auf die Bremse zu treten. Vielen Menschen ist es mittlerweile fremd geworden, wirklich nach innen zu lauschen, weil unsere Welt so viel Aufmerksamkeit im Außen einfordert.
Wir haben es fast zum Inbegriff eines gelingenden Lebens gemacht, dass alles pausenlos verfügbar ist. In den vergangenen Wochen haben wir eine ungeheure kreative Fülle an „Ersatzangeboten“: Balkonkonzerte, virtuelle Chöre, selbstgemachte Videoclips auf Instagram und Co. haben uns belustigt und berührt. Auch wenn der Unterhaltungsaspekt überwiegt, so wollen sich Künstler jetzt einfach unbedingt in digitalen Medien hörbar machen, was ich sehr kritisch betrachte. Musik entsteht im Raum und ermöglicht eine unmittelbare, sinnliche Erfahrung, die jedoch durch digitale „Berieselung“ und Streaming-Konzerte nicht ersetzt werden kann – so schön es als zusätzliche Option auch sein mag. Natürlich bin ich dankbar für die fantastischen Möglichkeiten der digitalen Medien. In Zeiten der kulturellen Entbehrung sind diese besser als gar nichts. Aber wir klassischen Künstler sollten aufpassen, damit nicht den Wert unserer Arbeit infrage zu stellen und durch ein kostenloses Überangebot im Netz zu verschleudern, was durch die permanente Verfügbarkeit gefördert würde. Dies bestärkt den Eindruck, es handle sich um ein Hobby und jeder dürfe teilhaben. Natürlich habe ich meine Leidenschaft zum Beruf machen können, aber für jeden Profisänger ist Singen kein Hobby, sondern sein Beruf und dieser mit sehr viel Fleiß, Disziplin und Verzicht verbunden.
In einer Zeit, in der die geistig-seelischen Vermögen der Menschen immer mehr zu verkümmern drohen, werden wir in der Zukunft nicht nur die technischen, sondern besonders die menschlichen Fähigkeiten brauchen. Wir können Technik mit gutem Gefühl begrüßen, sollten uns aber genügend Raum freihalten, um zu reflektieren, nachzudenken und uns bewusst zu werden, wie wichtig reales, gemeinsames Singen und Musizieren sind.
Wertigkeit von Kunst

Richard von Weizsäcker sagte: „Kultur ist kein Luxus, den wir uns entweder leisten oder nach Belieben auch streichen können, sondern der geistige Boden, der unsere innere Überlebensfähigkeit sichert.“ Dem stimme ich zu, denn Musik ist existentieller Bestandteil unserer Gesellschaft, weil sie von Menschen für Menschen geschrieben ist. Wir müssen diesen Reichtum unseres Kulturgutes schützen und wieder neu schätzen lernen. Die Corona-Krise hat mein inneres Gefühl von Berufung aufs Neue in den Fokus gerückt. Wir wissen nicht, wann wir wieder arbeiten dürfen, aber ich bewahre mir dennoch ein positives Denken, überzeugt davon, dass Musik und Kunst wesentliche Rettungsanker sind und wir unser Glück, einen so unglaublichen Job machen zu dürfen, noch höher zu schätzen lernen werden, sobald wir wieder miteinander musizieren können.
Ich wünsche mir, die Welt wieder mit Gesang zu beseelen und zu bereichern sowie Menschen Hoffnung, Trost und Liebe durch die Musik zu schenken. Besonders Gesang macht die direkte Verständigung der Menschen und Herzen auf ästhetischer Ebene möglich, unabhängig von Herkunft, Religion oder Hautfarbe, und kann in Konfliktsituationen Brücken bauen, wo die Sprache an ihre Grenzen stößt. So ist Musik nicht nur eine musikalische, sondern auch eine hochsoziale Tätigkeit, identitätsstiftend und gemeinschaftsbildend. Musik ist eine Form des menschlichen Miteinanders und geht in ihrer Wahrhaftigkeit in unsere Herzen – das, was uns Menschen ausmacht, diese unsere gemeinsame Sprache der Menschheit!
Corona ist eine Herausforderung für unser Mensch-Sein, nehmen wir sie dankbar an!
Abschließen möchte ich mit einem Zitat von Nikolaus Harnoncourt: „Die Kunst ist eben keine hübsche Zuwaage – sie ist die Nabelschnur, die uns mit dem Göttlichen verbindet, sie garantiert unser Mensch-Sein.“
- Gastartikel von Martina Hümmer / Mai 2020
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Die in Bamberg geborene Sopranistin Martina A. Hümmer bekam ihren ersten Gesangsunterricht im Alter von 17 Jahren bei Nese Pars und sammelte gleich sängerische Erfahrungen als Preisträgerin bei „Jugend musiziert“. Nach dem Gymnasium absolvierte sie an der Berufsfachschule für Musik Oberfranken eine Ausbildung zur Dirigentin und Chorleiterin und es folgte ein Gesangsstudium in Kassel und Frankfurt, welches sie mit den künstlerischen und pädagogischen Diplomen der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main 2017 abschloss. Martina A. Hümmer geht einer regen Konzerttätigkeit nach. Ihr Repertoire spannt sich von alter Musik über Passionen von Johann Sebastian Bach, klassischen Werken wie Mozarts c-moll Messe bis bin zur Moderne mit Mahlers 4. Symphonie oder kammermusikalischen Werken bis in die zeitgenössische Musik von Stockhausen. Auf der Opernbühne war sie bisher in „Dido and Aeneas“ von Henry Purcell, in der Rolle der Susanna in Mozarts „Le nozze di Figaro“ und als Adele in Strauss „Fledermaus“ zu hören. Ein Höhepunkt war die vielbeachtete Aufführung der wiederentdeckten Barockoper „Almira“ von Ruggiero Fedeli unter der Leitung von Gregor Hollmann, Regie Sonja Trebes (Staatstheater Kassel), in der sie die Titelpartie Almira sang.Gastspiele führten Sie nach Deutschland, Österreich, USA, Italien, Frankreich und Schweiz.Meisterkurse bei Barbara Bonney und Charlotte Lehmann ergänzten ihre Ausbildung.Außerdem ist sie Mitglied im Bund deutscher Gesangspädagogen und unterrichtet klassischen Gesang im Rahmen einer Lehrtätigkeit.
Wunderbar geschrieben!
Ein großes Kompliment an die Autorin.
Wenn die Musik der Liebe Nahrung ist, spielt weiter!