Der GMD der Oper Leipzig Ulf Schirmer im Gespräch mit dem OPERNMAGAZIN

Ulf Schirmer Intendant und Generalmusikdirektor Oper Leipzig/ © Kirsten Nijhof
Ulf Schirmer /Intendant und Generalmusikdirektor Oper Leipzig/ © Kirsten Nijhof

Seit fast zehn Jahren verzeichnet Ulf Schirmer in seiner Doppelrolle als Generalmusikdirektor und Intendant der Oper Leipzig einen Erfolg nach dem anderen. Mit ihm wurden die Komponisten Richard Strauss und Richard Wagner zum Kern des Spielplans. Neben Bayreuth und Wien führt einzig die Oper Leipzig den „Ring des Nibelungen“ fest im Repertoire mit jährlich einen oder zwei zyklischen Aufführungen.

In seinem Interview mit dem Opernmagazin zu den Richard-Strauss-Festtagen 2019, kurz vor Beginn der „Salome“, berichtet der Dirigent von den Orchesterproben, seinen Tagen an der Wiener Staatsoper und über anstehende Produktionen der Oper Leipzig

 

Das Opernmagazin: Herzlichen Glückwunsch zum gestrigen „Rosenkavalier“! Es war ganz hervorragend, wie die drei weiblichen Hauptrollen, Mitglieder des Ensembles der Oper Leipzig, harmoniert haben.

Ulf Schirmer: Dies ist unserer Ensemblepolitik am Haus zu verdanken. Wir versuchen die Menschen aufzubauen. Im Rosenkavalier war dies eine besonders glückliche Konstellation. Wir sind sehr zufrieden.

Das Opernmagazin: Haben Sie eine Lieblingsinszenierung der Wagner- und Strauss-Werke hier an der Oper Leipzig?

Ulf Schirmer: Ich habe einige Lieblingsinszenierungen, gerade weil sie so verschieden sind. Für sehr gelungen halte ich die „Elektra“ von Peter Konwitschny, seine Sichtweise auf das Werk funktioniert einfach hervorragend.

Dahingegen ist der „Rosenkavalier“ so, wie man ihn sich vorstellt. Er hatte etwas Doppelbödiges, ohne verfremdet zu wirken. Für die Strauss-Tage in dieser Spielzeit hatten wir ausnahmsweise die Erlaubnis der Technik bekommen, diese Inszenierung so noch einmal aufführen zu können. Aus sicherheitstechnischen Gründen musste das Bühnenbild noch einmal repariert werden. Nach 36 Aufführungen wurde das Kapitel nun beendet. Dies war für das gesamte Haus ein sehr emotionaler Abschied. Besonders aufregend ist auch unsere „Frau ohne Schatten“ von Balázs Kovalik.

Oper Leipzig/Opernhaus/ © Kirsten Nijhof

Das Opernmagazin: Im Gegensatz zu einer „Zauberflöte“, der „Traviata“ oder „La Bohème“, sind für das Publikum die Opern von Richard Strauss beim ersten Besuch immer eine Herausforderung. Im „Rosenkavalier“ habe ich mal anderenorts erlebt, wie meine Sitznachbarn zur Pause die Vorstellung mit den Worten „so viel Text, oh je oh je – und dieser Ochs, welch eine nervige Person“ verließen.
Wie erhält man als Zuschauer am besten den Zugang zur komplexen Musik von Richard Strauss?

Ulf Schirmer: Wir haben am Hause den Ehrgeiz, die Stücke so aufzuführen und zu inszenieren, dass man sie möglichst ohne Vorbildung erleben kann und versteht. Allerdings glaube ich, dass es gerade bei Richard Strauss sehr schwer ist, wenn man als Zuschauer keinen Zeitbezug zur Musik des frühen 20. Jahrhunderts hat. Gerade auch beim jüngeren Publikum zieht Richard Wagner ganz anders und viel direkter.

Der Zuschauer sollte im Programmheft oder in der Dramaturgen-Einführung zum Rosenkavalier schon etwas von der deutschen oder auch amerikanischen Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts, den Anfängen des „linguistic turn“, mitbekommen, andernfalls denkt er sich nur „Was reden die denn da?“. Um diese gesellschaftlichen Schwebungen und Einbrüche zu verstehen, sollte man sich auch unabhängig von der Musik ein wenig mit der Zeit vor dem Erstem Weltkrieg beschäftigen.

Im „Rosenkavalier“ findet sich eine gewisse avantgardistische Brüchigkeit, es ist doch ein in ungeheuer modernes Stück. Viele Leute tun ja so, als sei der „Rosenkavalier“ ein Rückschritt – was ich nie begriffen habe, denn Strauss hat hier sein avantgardistisches Handwerk nie verlassen. Richard Strauss spielt jedoch auf eine andere Art mit der Tonalität, es ist alles viel gleißender: Ein bisschen als ob er über einen spiegelglatten, zugefrorenen See ginge, in den er gelegentlich auch einbricht. Dann gibt es aber auch Stellen im „Rosenkavalier“, in denen, fast im nihilistischen Sinn gesprochen, gar nichts mehr passiert. Richard Strauss konnte etwas, dass die wenigsten Komponisten konnten, er konnte in der Musik die Ironie ausdrücken.

Mein Schwiegervater erzählt immer die Geschichte wie er mit 17 Jahren, direkt nach dem Krieg, am Theater Bremen an eine Karte einer Rosenkavalier-Aufführung gekommen ist. Er war noch nie zuvor in einer Oper gewesen und konnte gar nicht ahnen, was ihn erwartet. Obwohl ihn der „Rosenkavalier“ regelrecht traumatisiert hat, kommt er hin und wieder trotzdem zu meinen Aufführungen nach Leipzig.

Das Opernmagazin: Die letzte „Elektra“ an der Oper Leipzig wurde im November des letzten Jahres gezeigt. Nun zu den Richard-Strauss-Tagen spielen sie drei seiner Werke an aufeinander folgenden Tagen. Wie intensiv proben Sie für diese Strauss-Tage, denn eigentlich sind die Opern doch fest im Repertoire verankert?

Ulf Schirmer/Applaus-RING 2016/ Foto©Ida-Zenna

Ulf Schirmer: Wir können solche Festtage nicht aus dem Ärmel schütteln, selbst wenn die letzte Vorstellung einer Inszenierung erst zwei Monate her gewesen ist, muss noch einmal richtig geprobt werden. Nach dem letzten Ring-Zyklus habe ich sofort mit den Orchesterproben für alle drei Werke der Richard-Strauss-Tage begonnen, während die Sänger emsig mit Regieproben beschäftigt wurden. Sie sehen mich daher auch gut vorbereitet, ruhig und konzentriert zum Interview sitzen. Gerade, weil zu den Festtagen auch internationales Publikum nach Leipzig kommt, haben wir einen hohen Anspruch an uns selbst und die Wiederaufnahmen auf das Penibelste hin ausgearbeitet.

Das Opernmagazin: Sie haben Ende der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre sehr viel Strauss und Wagner an der Wiener Staatsoper, einem größeren Haus mit umfangreicherem Repertoire als der Oper Leipzig, dirigiert. Wie unterscheidet sich eine Wiederaufnahme an der Staatsoper Wien von einer Produktion der Oper Leipzig?

Ulf Schirmer: In meiner Antwort greife ich auf die Erfahrung zurück. Ich weiß nicht, ob das in den heutigen Tagen immer noch so ist. Ich kann jedoch mit Stolz sagen, dass wir in Leipzig mehr proben.

Das Opernmagazin: Ist es für Sie als Dirigent auch erfüllender, wenn Sie umfangreiche Proben erhalten? Es gibt und gab ja auch probenfaule Dirigenten…

Ulf Schirmer / Foto ©Tom Schulze

Ulf Schirmer: Seit zehn Jahren baue ich das Strauss-Repertoire hier in Leipzig auf. Das Gewandhausorchester besteht aus Musikern, die um Proben bitten, um das ganze Werk nochmal hochzuholen und nicht sagen „Och Herr Direktor, das haben wir doch erst gespielt“ – das freut mich sehr.

Ich nutze die Proben als endlosen persönlichen Prozess der Neuaneignung. Ich dirigiere die „Salome“ bestimmt seit 35 Jahren, jedoch habe ich immer wieder Phrasierungen, bei denen ich das Orchester frage „Wieso haben wir das nie so gespielt? – „Sie haben ja nie was gesagt“, lautet die Antwort. Das hält unglaublich frisch. Besonders schön fand ich, dass der Konzertmeister, Herr Breuninger, gegen Ende der Proben zum „Rosenkavalier“ aufstand und meinte: „Das ist jetzt die letzte Aufführung, gegen Ende des 2. Aufzugs spielen die 1. Geigen einen E-Dur Dreiklang, da müssen wir den Strich ändern“. Da hat er kurz überlegt und etwas ganz Raffiniertes geändert, was ich mir gleich in die Partitur gemalt habe. Er spielt das Werk auch seit acht Jahren, aber so hält man es so immer schön lebendig.

Das Opernmagazin: In der nächsten Saison wird „Capriccio“ an der Oper Leipzig geben, ein Werk für Kenner und Liebhaber. Diese Oper wurde dreimal im Studio auf CD eingespielt, von Wolfgang Sawallisch als auch von Karl Böhm – sowie unter Ihnen, Mitte der 1990er mit den Wiener Philharmonikern. Wie kam es dazu, dass Sie diesen Meilenstein der Operndiscographie erarbeiten durften?

Ulf Schirmer: Damals hatte ich als junger Dirigent schon zehn Jahre Strauss-Erfahrung an der Wiener Staatsoper und dirigierte gerade mein erstes philharmonisches Konzert. Leonard Bernstein ist 1990 gestorben, die Philharmoniker wollten einmal jemand Junges ausprobieren und die DECCA reagierte sofort!

Die „The Richard Strauss Collection“, eine DVD Box zusammengestellt von den Nachfahren von Richard Strauss hat sogar noch einen weiteren „Capriccio“ von mir, dieser ist von der Opéra Bastille in Paris mit Renée Fleming. Es gibt also mehrere Werke, gerade auch Carl Nielsen, die ich zweimal eingespielt habe.

Ich verfolge an der Oper Leipzig eine Art Langzeitpädagogik und habe erst letztes Jahr die „Lulu“ rausgebracht. Dieses Werk ist zentral für mich in einem Repertoiretheater, weil Alban Berg wie in einer Flaschenpost zeigt, was Oper stilistisch und inhaltlich ausmacht. Als Zentralwerk des 20. Jahrhunderts hat er sämtliche Kunstgattungen in seinem Werk verarbeitet. „Lulu“ hat somit auch einen lexikalischen Aspekt, ähnlich wie Richard Strauss mit seinem „Capriccio“. Mit seinem eskapistischen Übergriff auf frühere Formen geht mir dieses seltsame diskutieren „was ist wichtiger, die Musik oder der Text“ sehr nahe.

Richard Strauss sah die Gefahr, dass die Kunstform Oper, so wie er und so viele Musiker und Schaffende mit ihm, diese verstanden haben, durch den Zweiten Weltkrieg zerstört wird. Er wollte die Opernkunst, die seiner Meinung nach, er als einziger Komponist noch repräsentierte, wie in einem Gefäß, dass seine Zeit und die des Krieges überdauerte, aufheben. Bei Richard Strauss bleibt der ewige Reizpunkt, den wir gar nicht beiseiteschieben wollen, wie hat man sich gerade als Künstler, auch zur Sicherung der eigenen Existenz, in solch einem fürchterlichen, diktatorischen System des Nationalsozialismus zu verhalten.

Für uns wird „Capriccio“ an der Oper Leipzig eine ganz wichtige Premiere der nächsten Spielzeit.

Das Opernmagazin: Da wir gerade von Aufnahmen sprachen. Gibt es Wagner- oder Strauss-Dirigenten die sie besonders schätzen?

Ulf Schirmer / Foto ©Kirsten-Nijhof

Ulf Schirmer: Ganz wenige, aber ich schätze Christian Thielemann sehr, wir kennen uns ja schon seit 100 Jahren. Gelegentlich höre ich bei ihm rein und finde das ganz toll, dabei habe ich auch noch einen Lerneffekt. Wir sind auch als Typen ganz verschieden. Sonst ist das Feld der Dirigenten aber in der Tat dünn gesät.

Das Opernmagazin: Und verstorbene Dirigentengrößen der Vergangenheit?

Ulf Schirmer: Furtwängler, Knappertsbusch und dann gibt es so einige Überraschungen! Moralt, zum Beispiel! Rudolf Moralt, ein unglaublich wichtiger Dirigent der Wiener Staatsoper, er trug den in der Geschichte des Hauses selten vergebene Titel „Kapellmeister“. Von ihm wurden nun Ring-Aufnahmen entdeckt, das ist verblüffend. Ich hörte seinen Namen zum ersten Mal als ich etwa 20 Jahre alt gewesen bin. Moralt ist in den 1950er Jahren recht jung gestorben. Wenn Sie mit alten Philharmonikern geredet haben, kam sein Name immer wieder auf. Er hatte sich sehr auf die Arbeit am Haus konzentriert und ist nicht wie ein Wilder herumgefahren und hat gastiert.

Das Opernmagazin: Ein großes Vorbild von Richard Strauss war Wolfgang Amadeus Mozart. Sie dirigieren seine Opern in Leipzig eher selten. Wie kommt das?

Ulf Schirmer: Wir haben in Leipzig ein Mozartrepertoire aufgebaut und ich habe auch die „Zauberflöte“ dirigiert. Leider mussten wir feststellen, dass nach anfänglicher großer Begeisterung für z.B. den „Figaro“, das Publikumsinteresse schon in der nächsten Saison extrem stark nachließ. Ähnlich war dies auch bei „Così fan tutte“. Jetzt machen wir eine neue „Zauberflöte“, die ich nicht dirigieren werden. Ich habe früher an der Wiener Staatsoper und an anderen Häusern sehr viele Figaros, aber auch häufig die „Entführung aus dem Serail“ dirigiert. Mozart ist für mich als Komponist einer der Fixsterne am Himmel. Ich beschäftige mich immer wieder mit seinem Gesamtwerk, von seinen preußischen Quartetten kann ich beispielsweise gar nicht genug bekommen.

Das Opernmagazin: In Leipzig gibt es immer wieder musikalische Extreme: Im Sommer 2022 werden alle 13 Werke Richard Wagners binnen drei Wochen aufgeführt, 2021 werden sämtliche Sinfonien von Gustav Mahler innerhalb von zwei Wochen im Gewandhaus gespielt, und selbst den Ring-Zyklus haben sie schon an vier aufeinanderfolgenden Tagen an der Oper Leipzig gezeigt.
Wäre es denkbar, die beiden Einakter „Salome“ und „Elektra“, an einem Abend mit einer Pause hintereinander zu spielen?

Ulf Schirmer: Die Frage hat sich mir nie gestellt. Wenn ich so richtig in „Elektra“ oder „Salome“ einsteige, habe ich nach etwa einer halben Stunde das Gefühl, es gebe gar keine Zeit mehr. Sie nehmen beim Dirigieren Millionen von Signale auf. Die Deutsche Oper Berlin hat vor die „Elektra“ einmal einen Einakter gesetzt, das wurde auch gut angenommen. Ich muss jedoch gestehen, dass ich nie dazu bereit gewesen bin, mir das anzuhören. Das wäre für mich eine Überforderung, denn Richard Strauss hat mit seinen beiden Einaktern eine Totalität entworfen. Ich persönlich erlebe in der „Elektra“ eine totale Situation, diese möchte ich auch nicht durch ein Satyrspiel oder Ähnliches aufgelöst wissen. Als Zuschauer gehen Sie dort rein und es gibt nichts Anderes. Man soll erschüttert und mitgenommen aus dieser Oper wieder rausgehen.

Das Opernmagazin: Das Thema wird ja so ähnlich in der „Ariadne auf Naxos“ aufgenommen.

Ulf Schirmer: Aber da ist es ja auch gelöst, ganz leichtfüßig sogar.

Das Opernmagazin: Herzlichen Dank für das Interview.

Ulf Schirmer: Ich danke für das interessante Gespräch.

 

  • Das Interview mit Prof. Ulf Schirmer führte DAS OPERNMAGAZIN-Redakteur Philipp Richter am 27.4.19
  • Titelfoto: Ulf Schirmer / Foto ©Kirsten-Nijhof 
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