
Die erste Prüfung, bevor man die englischen Opernfestspiele Glyndebourne betritt, besteht darin, nicht überfahren zu werden. Laut Internet-Navigator ist die Landstraße dorthin zu Fuß begehbar. Dass das nicht stimmt, offenbaren die mit 60km/h vorbeirasenden Autos bei Abwesenheit eines Bürgersteigs. Ein Glück, dass freundliche Mitbesucherinnen einen spontan im Taxi mitfahren lassen! Sobald das eigene Überleben gesichert ist, entfaltet sich auf der Bühne eine wahre Denksportaufgabe von Parsifal. Dabei beweisen Bühne und Orchestergraben gemeinsam vor allem eins: einen Sinn für das, was in Wagners rätselhaftem letzten Werk wirklich wichtig ist. (Besuchte Vorstellung: 6. Juni 2025)
In einem streng christlichen Haushalt des ungefähren viktorianischen Zeitalters hat der Hauspfarrer alle Hände voll zu tun. Aufgrund des gesundheitlichen Ausfalls des Familienoberhauptes dirigiert er ein Geschwader britischer Butler und Bediensteten herum (unter anderen Umständen „Gralsritter“ genannt), sowie die einzige Frau des Geschehens: ein finsteres junges Wesen mit glühenden Haaren und fast-weißem Gesicht. Das Familienoberhaupt hat es böse erwischt: der Mann sitzt fast völlig entkräftet im Rollstuhl. Während besagter Hauspfarrer – Gurnemanz – ausschweifend vor neugierigen Hausdienern über Geschehnisse von vor zig Jahren referiert, offenbart sich in der Mitte der Szene der Ursprung dieses Übels, ein blaulila blühender Garten. Dort faulenzen die jugendlichen Versionen von Amfortas, Klingsor und Kundry (Statisten Cameron Fuller, Hugo Dunkley und Cecilia Young) als Freunde. Dabei haben die Jungs beide heimlich ein Auge auf das hübsche Mädchen geworfen – am Ende geht Amfortas allerdings als Sieger im jugendlichen Kräftemessen um Kundrys Zuneigung hervor. Mag es Neid sein auf Amfortas’ Überlegenheit, Verletztheit über dessen Gehabe, ein Hauch von Klassenunterschied als Sahnehäubchen (Amfortas als Sohn aus gutem Hause trägt Anzug mit Krawatte, Klingsor nur eine einfache Weste) – der junge Klingsor sticht mit seinem Schnitzmesser in einem plötzlichen, unkontrollierbaren Zornanfall seinen Freund nieder. Für den Verletzten kommt Hilfe, auch der herbeieilende Titurel, zu spät. Fortan sitzt er aufgrund einer lebenslänglichen Behinderung – einer Stichwunde, die sich nicht schließen will – im Rollstuhl, noch jahrzehntelang nach der erlebten Gewalt körperlich gequält. Der junge Klingsor ist Sekunden zu spät fassungslos über sein eigenes Verhalten, schämt sich vor sich selbst und vor Titurel, und flieht überstürzt. „Titurel, der fromme Held, der kannt‘ [Klingsor] wohl…“ sinniert Gurnemanz ganz recht. Kundry nimmt nach diesem Geschehen, wie durch ihr Kostüm (Design: Gideon Davey) bereits angedeutet, ihre Rolle als Dienstbotin im Hause weiterhin wahr.

Und dort herrscht mittlerweile dicke Luft: Ein rotzfrecher Eindringling hat mit Pfeil und Bogen auf dem Grundstück einen Schwan massakriert. Da er sich allgemein gutwillig, aber etwas unterbelichtet zeigt, lädt Gurnemanz ihn als Gast zum rituellen Abendmahl des Hauses ein. Bei selbigem starren sich Vater und Sohn hasserfüllt an – fehlt eigentlich nur noch, dass sie sich auch anspucken. Dass sein Sohn sich einst mit einem anderen Burschen um die Liebe zu einem Dienstmädchen balgte, befindet Titurel eindeutig unter der Würde ihres Standes, bringt entsprechend wenig Verständnis für die Qualen seines Sohnes auf und verlangt „business as usual“ von ihm. Als dieses abgedankte Oberhaupt erscheint Sir John Tomlinson, vibratoarm, knochentrocken, ungeduldig im Klang. Das Dirigat zögert seinen ersten Einsatz „Mein Sohn Amfortas, bist du am Amt?“ sekundenlang heraus, Spannung steigt, bevor die Legende zum Ton ansetzen darf – sehr zur Freude etlicher junger Publikumsmitglieder, die Sir John zum ersten Mal erblicken dürfen.
Amfortas hingegen hasst seinen Vater für dieses Unverständnis, hasst vielleicht sich selbst für seine einstige Arroganz, die seinen Jugendfreund zum Zustechen provozierte und hasst erst recht seinen Zustand als von seinen eigenen Schmerzen gemarterter Invalide, der nicht einmal richtig sitzen kann. Seinen Monolog „Wehvolles Erbe, dem ich verfallen…“ richtet er an den einzigen noch nicht abgestumpften Menschen am Tisch: Parsifal. Der erschreckt sich allerdings sehr ordentlich vor dem fiebrig-verkrampften Mann, der sich an ihm festklammert. Angesichts der seltsamen Persönlichkeiten dieses Haushaltes verweigert der Gast zu allem Übel auch noch die Kommunion, und nach einer Schlägerei mit den streng religiösen Hausdienern weist Gurnemanz den Jungspund schließlich zur Tür hinaus. Solch junger Übermut hatte im Hause einst genug Schwierigkeiten versucht.
John Relyea bestreitet diesen Akt mit weichem Bass, pfriemelt sich unentwegt an den Ansätzen eines Schnauzers herum. Im ersten Akt fehlt es noch etwas an Intensität und Durchschlagskraft; mit guter Verständlichkeit und wohlwollender Strenge trifft Relyea aber den Ton der Figur Gurnemanz. Darstellerisch gelingt Relyea der stumme Schluss dieses Aktes: zermürbt von der Lage und dem aggressiven Verhalten im Haushalt sitzt der sonst so gefasste Hauspfarrer am desertierten Tisch und schluchzt laut vor sich hin.
Jedoch hinterlassen gerade Gurnemanz’ Zeilen – halb Predigt, halb Kommentare über das Geschehen – einige Fragezeichen. Im zweiten Akt fällt dann der Groschen: die Charaktere singen grundsätzlich nicht von der Realität und von sich selbst, sondern von ihrer Selbstwahrnehmung. Was damals in einem blühend-schönen Garten passierte, traumatisierte die Beteiligten so sehr, dass sie ihr Dasein fortan nach diesen Geschehnissen ausrichteten. Kundry ist faktisch gar kein Symbol der ewigen Verführerin, oder eine unsterbliche Verfluchte – sie nimmt sich lediglich als eine solche wahr, weil sich einst zwei verschossene Jungs um sie stritten, bis einer von ihnen dem Anderen brutale Gewalt antat. Seitdem verhält sie sich entsprechend ihres Selbstbildes als Verderberin, die auf Erlösung wartet und doch nur andere ins Elend reißt. In Wahrheit war sie nur ein hübsches Mädchen gewesen. Klingsor ist freilich kein böser Zauberer; er beging als Junge eine blutige Tat, für die er in seinem Inneren keine Erklärung fand, sondern einzig die Idee, dass er wohl böse sein müsse, und isoliert sich demnach in diese Rolle: eine komplett selbsterfüllende Prophezeiung. Amfortas enthüllt nicht den wortwörtlichen Heiligen Gral – qua Geburt zur würdevollen Führung eines Adelsgeschlechtes bestimmt, die er nun wegen seiner Behinderung nicht mehr ausführen kann, empfindet er seine Behinderung als grausam-gerechte Zurschaustellung seiner Sündhaftigkeit. In diesem Glauben rumort eine gehörige Portion internalisierter Ableismus, gegenüber dem früheren, gesunden Ich weniger wert zu sein, und den Verlust der körperlichen Unversehrtheit als ‚gerechte Krankheit‘ für die Sünde seiner jugendlichen Arroganz und Liebe zu einer Dienstbotin zu sehen. Den daraus folgenden Gesang über sündiges Blut und Reinheit vor dem Heiland bestreitet der Norweger Audun Iversen übrigens mit lyrischen, doch hinreichend dunklem Bariton für diese Rolle, mit wilden, aber nicht unbeherrschten Rufen nach „Erbarmen!“ und mit einer glasartigen Klarheit, wie man sie im Bariton selten hört, die die seelische Zermürbung der Figur mit einer kontrastierenden Schönheit aufleuchten lassen.
Parsifal erscheint zwischen diesen gesungenen emotionalen Realitäten zunächst als unverständiger Gast, bevor er durch Kundrys Verführungsversuch nachempfinden kann, was sich an diesem Nachmittag abspielte, und wie sich die Liebe der zwei Jungen angefühlt haben musste. Klingsor, der sich von Parsifals plötzlicher Weisheit in seinem Selbstbild bedroht fühlt, flüchtet zunächst in seine alten Verhaltensmuster. Als Erwachsener taucht er mit demselben Messer auf, mit dem er einst Amfortas niederstach, bedroht den Anderen genau wie einst Amfortas. Doch beim Zustechen gelingt es Parsifal, ihm das Teil zu entreißen – und umarmt den Entwaffneten schließlich mit den Worten „Du weißt, wo du mich finden kannst“. Die Innigkeit, mit der Klingsor diese Umarmung annimmt, legt nahe, dass „In diesem Zeichen banne ich deinen Zauber“ auch ohne Kreuzzeichen gelang – Klingsors Glaube, er sei ohne Aussicht auf Besserung böse und keinerlei Zuwendung wert, bröckelt; der erste Schritt zur gemeinsamen Heilung ist getan.

Apropos: rein nach gesanglicher Leistung müsste das Stück hier eigentlich „Kundry“ heißen, denn Kristina Stanek spielt mit mädchenhaft-steinerner Miene herausragend gut eine junge Frau, die verbissen an ihrer eigenen Schuld knabbert und sich mit plötzlichem Absatzknallen gegen süffisante Butler behauptet, die einen Kopf größer sind als sie. Parsifal umgarnt sie suggestiv anschmiegsam und fühlt sich doch in Gurnemanz’ väterlicher Umarmung am wohlsten – da lauert zwischen dem Unnahbaren etwas unter der Oberfläche, das im zweiten Akt vollends ausbricht. Stimmlich schillert Staneks Mezzo wie ein tiefes Wasser, auf der Oberfläche glänzend von Licht, aber mit viel Dimension und satt-dunkler Farbe unter ebendieser Oberfläche, in der sich Untiefen wiederfinden. Auch die Vokalkontrolle ist sattelfest; nach sehrenden Spitzentönen behält sie die Fähigkeit zum beherrschten und farbenfrohen piano. Manches von ihrer stimmlichen Dimension würde man Daniel Johannssons Parsifal auch wünschen – meist bleibt er farblich blass, nach „Amfortas! Die Wunde!“ findet sich gelegentlich mehr Brillanz, doch zumeist leider nicht genug. Immerhin, die Lautstärke sitzt bei Bedarf. Ryan Speedo Green als Klingsor ist kein klassisch gellender Bösewicht-Bassbariton, könnte sich mehr Legato erlauben, doch steuert in seinen Tönen deutlichen Hohn bei, um Klingsors Selbstbild zu verdeutlichen.
Sodann erscheint der sehr kleine Versöhnungstross (Parsifal mit Klingsor im Schlepptau) im dritten Akt am Krankenbett des Amfortas. Klingsor selbst nimmt die Rolle des Heiligen Speeres ein, des verlorengegangenen Heiligtums, das vom Erlösungsbringer Parsifal „zurückgebracht“ wird. Die Frage nach der Erlösung ist die Frage nach einer Umarmung – Klingsor, fast versteinert vor Anspannung, ist endlich fähig, den Freund anzusehen, ihn zu sich zu ziehen und als Erwachsener um Verzeihung zu bitten. Amfortas, der Geschädigte, ist schon nicht mehr wütend, im Gegenzug vielleicht sogar berührt, dass der Jugendfreund immer noch an ihn denkt und nun zu ihm kommt, und nimmt diese lange, liebevolle Umarmung der Verzeihung an – bis er in den Armen seines Freundes leise stirbt. Auch Kundry ist ihre Selbstwahrnehmung als verführerische Verderberin los, nachdem Parsifal sie symbolisch von ihrer empfundenen Mitschuld reinwäscht und Gurnemanz sie erstmals an den Riten des Haushalts teilhaben lässt.
Das alles ist, mit Verlaub, eine hochkomplizierte Lesart. Ohne vorauseilendes Werkverständnis, Textsicherheit im Libretto und ausschweifender Deutschkenntnisse wird es knusprig. Einiges an diesem Kernkonzept könnte die Inszenierung daher noch klarer herausstellen und dekorative Ideen am Rande weglassen, denn der Neuling muss mit Bühne und englischer Übertitelung mithalten und selbige sofort doppelt einordnen, ins Bühnengeschehen und im gesanglich beschriebenen Geschehen.
Die zumeist lückenlose Umsetzung einer solchen Inszenierung und die Wege und Möglichkeiten, Spezifika des Textes in die eigenen Ideen einzubeziehen, ist jedoch zweifelsfrei eine große Leistung der Regisseurin Jetske Mijnssen und ihres Teams. Besonders lobenswert daran: die emotionale Resonanz der Oper Parsifal bleibt erhalten. Es geht um das, worin es im Parsifal eben geht: um die unterschiedlichen Formen des Leidens, um die Erlösung von den (Schuld)zuständen, die das Selbst „durch das Dasein“ quälen, sowie um einen freundlichen Trottel, der mit intuitivem Mitleid die bestehenden, kränkelnden Strukturen einer verschlossenen Gesellschaft aufbricht und eine Zeit der Heilung einläutet. Ein Hauch Mystik bleibt, wie eben die ganz normale Stichwunde, die sich mysteriöserweise jahrzehntelang nicht schließt. Wer sie sucht, findet in der Inszenierung gar eine christliche Deutung: Vergebung der Sünden ist eine Art der Erlösung, die es auch nach Jahren noch wert ist, gesucht zu werden, und die Verzeihung heilt.
Robin Ticciatis Dirigat hebt hervor, was Wagners letzte Oper so einzigartig macht: im Vorspiel tönen liebliche, ätherisch schwebende Bögen wie ein Dampf zum Einatmen. Immer wieder werden ein oder zwei Instrumente deutlich in den Vordergrund gerückt: verführerisch trillernde Flöten, kratzende Cellostriche, melancholische Blechbläser, oder ein deutliches Zusammenspiel zwischen Geigen und Harfen. Diese Hervorhebungen passen zu der Kleinheit des Bühnengeschehens, wo zwischen engen vier Wänden für Grandezza kaum Platz ist. Natürlich könnte man nun auf bissigere, intensivere Untermalung von Gurnemanz’ längstem Monolog pochen – doch später finden sich gehörige Steigerungen in der Verwandlungsmusik, kurz vibriert der Fußboden. Insbesondere der zweite Akt kehrt immer wieder zum leisen, dialogischen Grundton des ersten zurück, auch zu dessen Motiven. Gerade das ist äußerst begrüßenswert, denn so gewinnt dieser Schlüsselakt an Klarheit für die Zuschauenden, anstatt zu einer Aneinanderreihung von Lautstärkehöhepunkten zu geraten. Das Publikum dankt dem Dirigat mit wahrhaftiger Grabesstille in den Pausen zwischen seinen langen Bögen.

Der Glyndebourne Chorus, klein und fein, tönt üppig und präzise präzise, einzig auf „Der Glaube lebt…“ mit ein etwas zu viel Vibrato, und nimmt innerhalb der Inszenierung weitaus mehr Rollen ein als Gralsritter und Blumenmädchen. Den Einsatz „Enthüllet den Gral! […] Du musst!“ singen die Männer aus dem Off, um zu verdeutlichen, dass es sich nur um Stimmen in Amfortas’ Kopf handelt; die Blumenmädchen sind allesamt Kundry-Verschnitte – und vielleicht auch nur von Klingsor halluziniert, denn sie bedrängen ihn, erinnern sie ihn beständig an das Böse, das er einst tat.
Ein Glück, dass es in Glyndebourne grundsätzlich, und hier zumal, gerade nach dem zweiten Akt eine lange Pause gibt. Unter dem Deckmantel britisch-gediegener Ästhetik fordert die Inszenierung ihr englisches Publikum intellektuell auch stark heraus. Neulinge und Liebhaber dieser Oper verbrüdern sich in Erklärungsversuchen neben blökenden Schafen bei Karamellpralinen und Sekt im kalten Wind. Am Ende fährt man gemeinsam im Taxi wieder zum Kleinstadtbahnhof: Wie schön, Sie kennengelernt zu haben! – Ja, mir war es eine Freude; ich habe zu danken! Vielleicht-hoffentlich-irgendwann wartet am Ende allen Kummers auch auf uns eine Umarmung. Wenn das mal nicht der Parsifal ist.
- Rezension von Lynn Sophie Guldin / Red. DAS OPERNMAGAZIN
- Glyndebourne / Parsifal
- Titelfoto: Glyndebourne/PARSIFAL/Parsifal (Daniel Johansson),Kundry (Kristina Stanek)/Foto: Richard Hubert Smith