Canto di Speranza – Hommage an Bernd Alois Zimmermann am 12. Februar 2022 in der Kölner Philharmonie

Francois-Xavier Roth / Foto @ Holger Talinski

Eigentlich wollte Francois-Xavier Roth mit dem Regisseur Calixto Bieito, dem Gürzenich-Orchester und dem Ensemble der Kölner Oper „Die Soldaten“ von Bernd Alois Zimmermann in der Kölner Philharmonie aufführen, aber Corona machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Das Projekt wird auf eine späteren Zeitpunkt verschoben. Aber kurz entschlossen entwickelten sie ein absolut innovatives szenisches Konzertformat, bei dem die Mezzosopranistin Alexandra Ionis, der Bariton Leigh Melrose und das Orchester mit einigen Requisiten Assoziationen zur Musik Zimmermanns interpretierten. Es war die Fortsetzung des Sinfoniekonzerts mit szenischen Mitteln. (Rezension des Konzertes v. 12.02.2022)

 

 

Das Orchester hat Platz genommen, der Dirigent hebt den Taktstock, da steht ein Geiger in der letzten Reihe auf. „What do I then hold in my hands?“ Während das Orchester die „Sinfonie in einem Satz“ beginnt legt er die Geige weg, geht auf die Bühne vor dem Orchester und legt sich ein einen Schneewittchensarg, ein Aquarium. Aus dem Hintergrund kommt eine Frau in einem schwarzen Anzug und stellt ihm eine Grünpflanze zwischen die Füße.

Bernd Alois Zimmermann schrieb seine  „Sinfonie in einem Satz“  im Auftrag des NWDR Köln. Er kondensierte fünf Sätze zu einem 18 Minuten dauernden einzigen Satz. Das Besondere an diesem Werk ist, dass eine Art Sog entsteht, der das Publikum einnimmt. „Das sogenannte thematische Material … entwickelt sich erst in dem Zusammenwirken verschiedenster Kräfte aus dem amorphen Zustande der musikalischen Keimzelle zum organischen Gefüge des Ganzen in großen Bögen von apokalyptischer Bedrohung zu meditativer Versenkung schwingend und im Hindurchgang durch alle Stadien des musikalischen Entwicklungsprozesses heftigen dynamischen Evolutionen unterworfen“, so wird Zimmermann vom Schott-Verlag zitiert. Das Grauen des 2. Weltkriegs ist in dem Werk gegenwärtig.

Blick in den Saal der Kölner Philharmonie / Foto © KölnMusik/Guido Erbring

Die Uraufführung 1952 mit dem Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester unter der Leitung von Hans Rosbaud wurde vom Publikum nicht verstanden- kein Wunder, so kurz nach dem Krieg. Vor allem die Verwendung der Orgel stieß auf Kritik. In seiner zweiten Fassung strich Zimmermann die Orgel und vereinfachte etliche Takte.

Den Durchbruch schaffte das Werk in seiner zweiten Fassung 2017/18 anlässlich des 100. Geburtstags des Komponisten. Es wurde am 30. und 31. Oktober 2017 auch vom Gürzenich-Orchester gespielt. Zimmermann war einfach seiner Zeit weit voraus.

In Stille und Umkehr , Orchesterskizzen, 1970, Zimmermanns letztem Werk, einem sehr reduzierten, eher kammermusikalisch anmutenden Stück, bildet eine kleine Trommel mit einem  Bluesrhythmus das Rückgrat, an dem sich die musikalische Substanz aus Harfe, Blasinstrumenten, Celli und Kontrabass langsam auflöst. Die Konstruktion aus liegenden Tönen kann als Dehnung des Zeitablaufs interpretiert werden.

Der Ausschnitt aus „Tratto II“, einer 4-Kanal-Bandaufnahme, realisiert im Studio für elektronische Musik der Hochschule für Musik in Köln 1970, wird mit dem Aufbruch der sich angeregt unterhaltenden Geiger*innen und Bratscher*innen bebildert. Sie nehmen mit ihren Instrumenten auf der Chorempore Platz, denn sie werden im nächsten Stück nicht gebraucht.

Calixto Bieito/ Foto ©Monika Rittershaus

„Musique pour les Soupers du Roi Ubu“ für Orchester und Combo, 1962 bis 1966 entstanden,  ist eine witzige Ballettmusik, eine kunstvolle Collage, die virtuos mit Zitaten aus den Werken von Komponisten aus verschiedenen Epochen spielt. Calixto Bieito bebildert sie mit tänzerischen Aktionen und Requisiten, unter anderem mit Reifröcken, die die beiden Akteure anziehen. Aus dem Zuschauerraum holt sich jeder ein leichtes Rennrad, der Dirigent reicht jedem eine Luftpumpe. Während des Finales der Ballettmusik, das Wagners Walkürenritt und hämmernde monotone, immer hektischer werdende  Klavierakkorde zitiert, strampeln sich die beiden – offensichtlich unter Zeitdruck – mit den Reifröcken auf den aufgebockten Fahrrädern ab, die Streicher*innen eilen, Anteil an den gestressten Radfahrerenden nehmend, wieder auf ihre Plätze.

Die Zeit ist Thema von Zimmermanns Werk, und die Zeit erfahrbar zu machen ist eins seiner wichtigsten Anliegen. Nun ist keine Kunstform stärker an die Zeit gebunden als die Musik. Das kann man mit der Akzeleration des Rhythmus wie in „Photoptosis“ darstellen,  das kann man mit der Dehnung des Zeitablaufs wie in „Stille und Umkehr“ zeigen, das kann man mit der Gleichzeitigkeit verschiedener Handlungsstränge und Tempi wie in seinem Hauptwerk „Die Soldaten“ ausdrücken.

In dem „Canto di Speranza“ aus fünf Einzelstücken gelingt das Erfahrbar-machen der Zeit mit den Mitteln der Musik, ergänzt durch szenische Aktionen zweier Personen, die auch das Orchester einbeziehen. Es wirkt wie ein viersätziges Werk mit Zwischenspiel, das in „Photoptosis“ ein gutes, positiv stimmendes Ende nimmt, nachdem sich die Welt in „Stille und Umkehr“ scheinbar aufgelöst hat.

Die Gleichzeitigkeit von Musik, Bewegung und Sprache, der musikhistorische Pluralismus in Gestalt der Tonsprache verschiedener Epochen findet sich auch in den ausgewählten Stücken. Bernd Alois Zimmermann hat die Theorie der „Kugelgestalt der Zeit“ entwickelt, die ein wenig an Einsteins Relativitätstheorie erinnert. Er negiert, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als aufeinander folgend zu begreifen sind, sondern behauptet, sie seien untrennbar miteinander verwoben. Musikalisch drückt er das damit aus, dass verschiedene Orchestergruppen in unterschiedlichen Taktmaßen spielen, die sich an individuellen Zeitmaßen orientieren, sich also in verschiedenen Zeitrechnungen abspielen.

An „Stille und Umkehr“ spiegelt sich inhaltlich das „Prélude für großes Orchester Photoptosis“, 1968 uraufgeführt, das sich, angeregt durch Yves Kleins monochrome blaue Wandgestaltung im Theater im Revier Gelsenkirchen, aus kleinen Anfängen der Streicher und Blechbläser zu einem riesigen Klangteppich entfaltet. Der Schneewittchensarg wird vor das Dirigentenpult geschoben, und die beiden Akteure tragen eine nach der anderen jeder sieben Neonröhren einzeln von der Seite nach vorne und legen sie auf dem Aquarium ab, während die Musik immer hektischer wird und das Licht sich verdunkelt. Es kommt einem vor wie synchrone Akkordarbeit. Zum triumphierenden Schluss des Préludes leuchten die Neonröhren grell auf und erhellen die Szene.

François-Xavier Roth fächert die Klanggruppen differenziert auf und lässt die Klangmassen trotz der extremen Vielstimmigkeit strukturiert wirken. Das erzeugt die Faszination eines glitzernden, flirrenden, hämmernden und schwelgenden Orchesterklangs. Die Präzisision des Orchesters ist atemberaubend, die Dynamik geht vom zartesten Pianissimo in „Stille und Umkehr“ zum Fortissimo am Ende des Préludes für großes Orchester. Das große Schlagwerk einschließlich Klavier – zehn Schlagzeuger sind am Start – und die brillanten Bläser beeindrucken auf der ganzen Linie. Francois-Xavier Roth hat aus dem Gürzenich-Orchester einen exquisiten Klangkörper geformt, der absolut präzise pariert.

Am Schluss atemlose Stille, das Orchester starr, wie eingefroren. Die beiden Akteure deklamieren: „What do I then hold in my hands?“ und dann bricht der Applaus los. Stehende Ovationen, auch für den Regisseur Calixto Bieito, der die musikalische Collage zu dadaistisch anmutendem Musiktheater aufmontiert hat. „Wir gestalten ein visuelles Gedicht, das einen Kontrapunkt setzt zur Größe der Musik und des Orchesters“, so Bieito im Programmzettel. Seine Installation ist Ersatz für Erläuterungen der Stücke im Programmheft.

Durch die szenische Gestaltung und die Lichtregie kommt das Konzert einem Stück Musiktheater nahe. Die rund 70 Minuten Aufführungsdauer wirken unfassbar dicht.

Die Zeit ist im Fluge vergangen, und das am Ende strahlende Licht mit der gewaltigen Musik interpretiere ich als Symbol der Hoffnung.

Das Konzert wird am 26. Februar 2022 in der Elbphilharmonie in Hamburg wiederholt.

 

  • Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Kölner Philharmonie
  • Titelfoto: Haupteingang der Kölner Philharmonie Foto: ©KölnMusik/Guido Erbring
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